Nach den Einsteiger-Werkstätten „erinnern ermöglichen“ im September in Athen und Thessaloniki trafen sich Ende Oktober PraktikerInnen mit ersten Erfahrungen in der deutsch-griechischen Erinnerungsarbeit in Würzburg. Was bedeutet Erinnerungskultur in Deutschland? Was wird in Griechenland darunter verstanden? Wie diese beiden Welten zusammengehen, darüber diskutierten 20 Lehrkräfte und Fachkräfte aus der Bildungsarbeit.

Graphic Recorderin Johanna Benz aus Leipzig kam kaum hinterher als die TeilnehmerInnen der dritten Erinnerungs-Werkstatt des Deutsch-Griechischen Jugendwerks (DGJW) an dem grauen Montagnachmittag Ende Oktober ihre Erwartungen an den zweitägigen Austausch formulierten: Herausforderungen, Bedarfe, Schwierigkeiten und die unterschiedlichen Startpunkte in Deutschland und Griechenland beim Thema Erinnerungsarbeit wurden als Stichworte auf den Pinnwänden gesammelt. „Vernetzung“, „spannende Projektideen“ und „neue Perspektiven und Fragen“ stand auch dort.

Eingeladen zu dem Austausch in der Jugendbildungsstätte Unterfranken in Würzburg hatte das Projekt „erinnern für morgen“ des DGJW. Im April 2022 hatte die Auftaktkonferenz in Leipzig stattgefunden, im September zwei Werkstätten für EinsteigerInnen in die deutsch-griechische Erinnerungsarbeit in Thessaloniki und in Athen.

In Würzburg versammelten sich nun Lehrkräfte und Fachkräfte aus der Bildungsarbeit aus beiden Ländern, die bereits erste Erfahrungen mit dem Thema mitbrachten. Das Ziel: Pädagogische Ansätze kennenlernen, reflektieren und damit beginnen, gemeinsam an Methoden und Lösungen für das nächste Kapitel der deutsch-griechischen Erinnerungsarbeit zu arbeiten. Eine Frage werde sein, wie Erinnerungsarbeit in einer deutschen Migrationsgesellschaft aussehen kann – wenn klassische Herangehensweisen von Tätern und Opfern und den Nachfahren nicht möglich sind – und ein rassismuskritischer, multiperspektivischer Ansatz gewählt wird, erläuterte DGJW-Generalsekretär Gerasimos Bekas zu Beginn den Rahmen.

Wie mit dem Auseinanderklaffen umgehen?
Bei einer Bestandsaufnahme über die Rahmenbedingungen der Erinnerungsarbeit in beiden Ländern, Akteure, Methoden und Herausforderungen, wurde schnell deutlich, wie unterschiedlich der Ist-Zustand ist: Während die griechische Gruppe befand, dass es eine mündliche, lokal geprägte Erinnerungskultur und es auf wissenschaftlicher und akademischer Ebene gute Entwicklungen gebe, sei es gleichzeitig so, dass diese Arbeit nur einen geringen Einfluss auf die Gesellschaft habe. Es gebe immer noch viele unausgesprochene Traumata und offene Wunden. In der Schule fehlten Dialog und Interaktionen über die von den Lehrkräften dargestellten Geschichtsinhalte, um die Zeit erlebbar zu machen, fasste Historiker Giorgos Psaroudakis aus Kreta zusammen.

Deutschland habe –auch geschichtsbedingt– eine breite Erinnerungskultur und eine Vielzahl an Akteuren wie Gedenkstätten, schulische und außerschulische Bildungsarbeit, kirchliche Träger, Sportverbände oder lokale Initiativen wie Geschichtsvereine, skizzierte Gregor Christiansmeyer (Mercator Fellow für internationale Aufgaben zur internationalen Jugendarbeit) den Ist-Zustand. In der Schule komme das Thema an verschiedenen Stellen vor – nicht nur im Geschichtsunterricht: Jeder Schüler in Rheinland-Pfalz sollte eine Gedenkstätte besucht haben oder eine Begegnung in dem Bereich miterlebt haben, berichtete etwa Bettina Münch-Rosenthal von der Schulbehörde Rheinland-Pfalz. Die Initiativen in den Bundesländern seien jedoch sehr heterogen. Eine Herausforderung sei zudem, dass vielen Lehrkräften Wissen im deutsch-griechischen Kontext fehle. Dort brauche es Fortbildungen.

Gut funktioniert hätten in der Bildungsarbeit biographische Ansätze mit Zeit- oder Zweitzeugeninterviews, bei denen die Opfer Gesichter bekämen, aber auch Methoden, die Theater oder Bewegung nutzten. „Unsere Erinnerungs-Radtour hat uns 20 Kilometer durch Köln geführt. Wir haben auch ein Booklet mit Informationen zu den Orten, an denen wir angehalten haben, und ihrer Geschichte erstellt“, berichtet Anastasia Sakavara von den Jugendzentren Köln.

Was beide Länder verbinde, stellten die Teilnehmenden fest, sei, dass in den Familien oftmals geschwiegen oder nicht offen über schmerzhafte Kapitel kommuniziert werde. Das Schweigen und die Tabuthemen zu überwinden, seien gemeinsame Herausforderungen. Schwierig sei es zudem, mit den bestehenden Finanzierungsquellen des Jugendwerks Austausche zu Erinnerungsthemen zu gestalten; es brauche mehr Ressourcen für die sprachliche Verständigung zu sensiblen Themen, betonten Teilnehmende.

Erinnern im Lokalen: Der Weg der Erinnerung in Würzburg
Der zweite Werkstatt-Tag startete am Würzburger Dom und der Residenz mit einer Annäherung an das Thema Erinnern: „Die Art, wie wir Themen angehen, hat viel mit uns zu tun“, führte Zehranur Manzak aus dem pädagogischen Team der Jugendbildungsstätte Unterfranken ein. Während die einen über Geburts- oder Todestage erinnerten, täten andere dies über Tattoos, Schmuckstücke oder Sinneseindrücke wie Musik oder Gerüche. Beim Erinnern gelte es zudem immer zu hinterfragen, wer die Narrative bestimme.

hDas Projekt ist eine Mischung aus privater und städtischer Initiative.

Am Platz’schen Garten, an dem sich damals ein Tanzlokal befand, steht seit 2010 ein Denkmal des Künstlers und Benediktinermönchs Meinrad Dufner. Dort war der Sammelpunkt von dem aus über 1.500 Menschen mit ihrem Gepäck zum Verladebahnhof laufen mussten, an dem sie in Züge, die meist in das Konzentrationslager Theresienstadt fuhren, stiegen. Wie das alles heut bekannt sei, will ein Teilnehmer wissen: „Die Nazis konnten die Unterlagen hier in Würzburg nicht schnell genug vernichten, deswegen wissen wir viele Details zu den Deportationen“, erklärt Stefan Lutz-Simon von der Jugendbildungsstätte. Der Weg endet am Hauptbahnhof, dem sogenannten DenkOrt Deportationen, der im Jahr 2020 eröffnet wurde. Herrenlose Gepäckstücke, Koffer, Taschen und Rucksäcke symbolisieren als Medien des Gedenkens die Verbindung zu den Kommunen und den jüdischen Gemeinden aus denen die Deportierten stammten – dort finden sich auch die jeweiligen Pendents der Gepäckstücke.

Zwischen Erinnern und Verinnern
Die griechischen Teilnehmenden zeigten sich beeindruckt von der Gemeinschaftsleistung verschiedener Akteure, die in diesem Projekt sichtbar wurde. Wo und wie Erinnerungskultur auch in Griechenland sichtbar und damit an kommende Generationen weitergetragen wird, wurde anschließend diskutiert: „In Thessaloniki gibt es beispielsweise etwa 140 Stolpersteine, in Veria und Kryoneri auf dem Peloponnes sind weitere“, berichtete Panos Poulos (Filoxenia) aus Kryoneri. Auch die Märtyrerdörfer und ihre Initiativen zu Gedenktagen oder sogar -wochen seien ein gutes Beispiel für Gemeinschaftsleistungen von Kommunen, Kultur-, Sport- und Musikvereinen in der Erinnerungsarbeit. Dennoch müsse das Erinnern in Griechenland stärker institutionalisiert werden, plädierten einige Teilnehmende.

Mit Blick auf die Deutungshoheit in der Erinnerungskultur ging es auch darum, sich und den Jugendlichen, mit denen gearbeitet wird, eine „kritische Brille“ aufzusetzen: An wen wird gedacht? Warum? Wer hat bis dato die Erinnerungskultur geprägt und was hat das mit mir zu tun? waren einige der angerissenen Fragen. Ein Gedicht der Zeitzeugin Batsheva Dagan (hier zum Nachlesen) führte die Gruppe zu der Frage, wohin Erinnern in der Gegenwart und im Morgen führen soll. Eine Einführung in das Gedächtnistheater nach Michal Bodemann und die Weiterführung der Kritik am bestehenden Integrationssystem des Publizisten Max Czollek folgten verbunden mit der Frage, was passiert, wenn Rollen bzw. Label nicht angenommen werden.

Ergänzend zeigte das Trainer-Team den Kurzfilm „Masel tov Cocktail“ über den 16-jährigen Dima im Ruhrgebiet, Sohn russischer Einwanderer und Jude. Seine Religion ist für ihn eigentlich kein Thema, wären da nicht die Reaktionen seiner Mitmenschen, die ihn immer wieder zwingen, sich zu fragen, was sie für ihn bedeutet.

Perspektiven für die deutsch-griechische Erinnerungsarbeit
Viele Teilnehmende verließen die Jugendbildungsstätte mit mehr Fragen als sie beim Ankommen hatten. Einigkeit bestand darin, dass Erinnerungsarbeit immer in Beziehung gesetzt werden muss zu den Herausforderungen einer modernen, multikulturellen Gesellschaft. Offene Fragen betrafen die Punkte, wie deutsche und griechische Erinnerungsarbeit verbunden werden kann und – auf griechischer Seite – was getan werden könne, um sich der eigenen Vergangenheit, während der deutschen Okkupation, aber auch in anderen historischen Kapiteln, ehrlicher anzunähern. Angeregt wurde, mehr Fachkräfteaustausche in dem Bereich durchzuführen, um bessere Voraussetzungen für Jugendaustausche zu schaffen.

Von Seiten des DGJW hieß es, ein Methodenkoffer mit Arbeitsmaterialien zur Erinnerungsarbeit befinde sich in der Planung. Die bewilligten Mittel für das Projekt „Erinnern für Morgen“ laufen Ende 2022 aus, eine Fortsetzung sei jedoch geplant. Unklar sei noch, wie das Projekt finanziell ausgestattet sein wird.


Mehr zur AG Erinnerungsarbeit. Details zur Werkstatt-Reihe des DGJW.

Text und Fotos: Lisa Brüßler
graphic recording: Johanna Benz, Büro für Graphic Recording und Illustration
: http://www.graphicrecording.cool



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