»Der Austausch unserer Communities ist essentiell für effiziente Erinnerungsarbeit«

Für den Verband der Vereine der Griechen aus Pontos in Europa (OSEPEyouth) ist 2021 kein gewöhnliches Jahr: Es markiert 200 Jahre nach dem Beginn der Griechischen Revolutionen gegen die Osmanen 1821. Warum die Erinnerungskultur ein zentrales Thema für junge Menschen pontosgriechischer Herkunft ist und bleibt, erzählt Parthena Iordanidou vom Jugendvorstand im Interview.

Agorayouth: Parthena, du bist im Jugendvorstand der Jugendorganisation des Verbands der Griechen aus Pontos in Europa. Wen vertretet ihr?
Parthena Iordanidou: Der OSEPE-Jugendvorstand (Συντονιστική Επιτροπή Νεολαίας της Ομοσπονδίας Συλλόγων Ελλήνων Ποντίων στην Ευρώπη) setzt sich seit 1995 für die Interessen junger Menschen pontosgriechischer Herkunft zwischen 18 und 32 Jahren ein. Die Wurzeln der Mitglieder liegen in der historischen Region des Pontos, an der Südküste des Schwarzen Meeres, die heute zur Republik Türkei gehört. Griechen bewohnten die Pontosregion seit dem 8. Jahrhundert vor Christus sowie weitere Regionen der heutigen Türkei. Mit der Machtergreifung der Jungtürken in 1908 wurde die systematische und methodische Vernichtung der christlichen Völker im Osmanischen Reich, von Armeniern, Griechen und Aramäern/Assyrern/Chaldäern geplant und durchgeführt. Anfang des 20. Jahrhunderts lebten ungefähr 700.000 Griechen im Pontos und zwischen 2,2 Millionen und 2,7 Millionen Griechen im gesamten Osmanischen Reich. Etwa 353.000 Griechen aus Pontos wurden von den Jungtürken und Kemalisten ermordet.

Agorayouth: Was ist der Schwerpunkt eurer Arbeit?
Wir sind die Nachfahren von Genozidüberlebenden, von verfolgten und vertriebenen Griechen und verstehen es als unsere Pflicht, uns für die internationale Anerkennung und Aufarbeitung des Genozids an unseren Vorfahren und an der griechischen Nation einzusetzen. Daher bilden die Bemühungen um Anerkennung und Gerechtigkeit für die über eine Million griechischen Opfer einen Schwerpunkt unserer Arbeit. Es ist uns ein Anliegen, allen griechischen Opfern die Stimme zu geben, die ihnen weggenommen wurde. Genauso bedeutend ist für uns aber auch das Erhalten und Vermitteln der kulturellen Identität wie von Traditionen, Werten und Bräuchen des Pontos.

Agorayouth: Dann würde es sich ja anbieten, auch im deutsch-griechischen Jugend- oder Fachkräfteaustausch aktiv werden…
Gerne würden wir uns an Projekten des Deutsch-Griechischen Jugendwerkes beteiligen und gemeinsame Projekte zu Kultur, Menschenrechten und Erinnerungskultur angehen. Die deutsch-griechische Freundschaft möchten wir durch intensiven Austausch, Information und Sensibilisierung fördern und unsere Perspektive sichtbar machen.

Agorayouth: Mit welchen Organisationen arbeitet ihr denn bisher in Griechenland und Deutschland zusammen?
Die Zusammenarbeit mit dem Menschenrechtsverein Arbeitsgruppe Anerkennung e.V. und der Fördergemeinschaft für eine Ökumenische Gedenkstätte für Genozidopfer im Osmanischen Reich e.V. haben uns geholfen, das Verbrechen des Genozids und die Dimension der Anerkennung und Aufarbeitung zu verstehen sowie gezielt für diesen Zweck zu arbeiten. Wir hatten ein Gedenkkonzert zum 24. April, dem Gedenktag an den Genozid an den Armeniern mit dem Armenischen Jugendverband in Deutschland ARI e.V. und dem Assyrischen Jugendverband in Mitteleuropa und planen weitere Projekte und Aktionen mit ihnen. Außerdem stehen wir im Austausch mit der Griechischen Jugend aus Thessalien in Europa, dem Verband der Epiroten, Kreter, Thessalier und der Thraker in Europa und hoffen auf eine enge Zusammenarbeit in Bezug auf gemeinsames Gedenken. Und natürlich arbeiten wir auch mit allen pontosgriechischen Jugendvorständen auf der Welt zusammen.

Der Austausch unserer Communities ist essentiell für effiziente Erinnerungsarbeit. Als Griechen legen wir viel Wert auf gute Beziehungen mit anderen regionalgriechischen Gruppen, schließlich ist das Jahr 2021 für uns von sehr großer Bedeutung! Es markiert die 200 Jahre nach dem Beginn der Griechischen Revolutionen gegen die Osmanen 1821.

Agorayouth: Der Verband besteht aus 49 Vereinen der Griechen aus Pontos in ganz Europa. Hat sich eure Arbeit im letzten Jahr pandemiebedingt verändert?
Durch die Pandemie waren keine analogen Veranstaltungen möglich, aber es war eine Chance, unsere Veranstaltungsformate neu zu denken und zu ergänzen. Eigentlich veranstalten wir jedes Jahr ein wissenschaftliches Symposium in Frankfurt, damit wir Anregungen der Jugendlichen aufnehmen und nach ihren Wünschen handeln können. Außerdem finden in zwei Städten auch zwei Jugendtreffen statt, an denen die Jugendlichen an Workshops über die pontische Kultur und Möglichkeiten zur Partizipation in Deutschland teilnehmen können. Im Sommer gibt es immer ein Europäisches Jugendkulturfestival, bei dem Jugendliche zusammen kommen, um ihren kulturellen Horizont zu erweitern und einen Teil ihrer kulturellen Identität aufrechtzuerhalten.

Agorayouth: Das heißt, auch ihr seid wie so viele auf digitale Formate ausgewichen?
Genau, als Ersatz haben wir unsere Jugendtreffen mit Themen wie der Vernichtungspolitik im Osmanischen Reich oder die Pontosgriechen im 20. Jahrhundert, pontosgriechische Musik online angeboten. Um jungen Pontosgriechen den Dialekt näherzubringen, haben wir den Dialektunterricht digital angeboten. Demnächst möchten wir zum Beispiel das wissenschaftliche Symposium bilingual gestalten und. nicht-griechische Interessierte einzuladen, damit wir mehr Begegnungsräume schaffen. Auch haben wir uns erstmals an YouTube-Videos herangewagt.

Agorayouth: Was sind für euch Herausforderungen in Bezug auf das Thema Erinnerungskultur?
Über 100 Jahre nach dem Genozid ist leider festzustellen, dass dieses Verbrechen von Europa und der internationalen Gemeinschaft nicht so aufgearbeitet und bekannt wurde wie es nach der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes der Vereinten Nationen von 1948 vorgesehen ist. Beispielsweise wird auch nach der sogenannten “Armenier-Resolution” von 2016 der Genozid an Armeniern, Griechen und Aramäern/Assyrern nicht an Schulen behandelt, was in der Resolution vorgesehen wurde. Die mangelnde Behandlung stellt eine besondere Herausforderung für Kinder und Jugendliche mit postgenozidalem Hintergrund dar, denn Lehrkräfte kennen sich kaum damit aus und zeigen keine Sensibilität für das Thema, sodass die Betroffenen selbst ihren MitschülerInnen erklären müssen.

Agorayouth: Es ist also aus eurer Sicht noch viel Luft für Sensibilisierung?
Ja, viele MitschülernInnen nehmen das Thema nicht ernst, teilweise wird es auch belächelt und nicht selten wird es von türkischen MitschülernInnen geleugnet. Auch in unserer Gesellschaft ist die Leugnung des Genozids und Verehrung der Täter Alltag: Aufkleber, Tattoos und Flaggen mit dem Gesicht und der Unterschrift von Mustafa Kemal sind ein Beispiel von Täterverehrung. All diese Faktoren entmutigen junge Menschen, von den Verbrechen zu sprechen. Da wollen wir eine Hilfestellung bieten, indem wir selbst in Klassenräume gehen und erklären und/oder verlässliches und verständliches Material zur Verfügung stellen. Der Genozid an den Griechen ist eher in der pontosgriechischen Community als in anderen regionalgriechischen Gruppen. Daher wissen viele Griechen in Deutschland und Europa, was Genozid bedeutet und legen nicht so viel Wert aufs Gedenken am 19. Mai und am 14. September wie wir als Nachfahren, was oft verletzend ist, denn sie begreifen nicht, dass der antigriechische Hass und die Vernichtungspolitik der Jungtürken und Kemalisten gegen alle Griechen bzw. Christen gerichtet war – unabhängig von der Herkunftsregion.

Interview: Lisa Brüßler
Fotos: OSEPE
youth

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