Der Roman „Athos der Förster“ (griechischer Titel: Άθος, ο δασονόμος) von Maria Stefanopoulou ist ein fiktives Werk, das auf dem historischen Ereignis, dem Massaker von Kalavryta am 13. Dezember 1943 durch die deutsche Wehrmacht, basiert. Trotzdem ist es kein historischer Roman, weil die Frage nach der historischen Realität im Werk nicht verhandelt wird. Eine Buchbesprechung von Raphael Irmer.

Athos verlässt 1928, mit 18 Jahren, sein Dorf, um Forstwirt zu werden. Zusammen mit seiner Ehefrau Marianthi bekommt er zwei Kinder – Margarita und Giannos. 1939 übernimmt er das Forstrevier um Kalavryta. Bei dem Massaker, das am 13. Dezember 1943 die deutschen Besatzungstruppen dort begehen, werden er und sein Sohn Giannos erschossen. Während sich alle Buchcharaktere über den Tod Giannos einig sind, bezeugen die Mehrzahl der vorliegenden Berichte Athos´ Überleben. Seine Frau Marianthi findet den Leichnam ihres Sohnes Giannos, nicht aber den von Athos. Nach den Ereignissen in Kalavryta verlässt Marianthi mit ihrer Tochter Margarita Kalavryta und lebt in Athen. Lefki, Margaritas Tochter, wandert nach Boston in die USA aus, um Medizin zu studieren. Dort bekommt sie ihre Tochter Iokaste. Gemeinsam kehren sie 1987 nach Griechenland zurück. Iokaste lebt in Athen bei ihrer Großmutter Margarita, während Lefki nach Kalavryta zurückkehrt, um dort als Ärztin zu arbeiten. Iokaste studiert Literaturwissenschaft in Athen und arbeitet später an einem Theater. Marianthi wird früh dement und lebt fortan in einer Betreuungseinrichtung. Später stirbt sie an einem Herzinfarkt. 

Der Roman bestehend aus zwei Teilen
Die Texte des ersten Teils Aus Lefkis Nachlass nehmen keinen Bezug aufeinander. Es sind Selbstzeugnisse der Hauptcharaktere, geschrieben aus der Ich-Perspektive. Zu Wort kommen Athos, der Förster, seine Frau Marianthi, seine Tochter Margarita und ihre Tochter Lefki. Von Athos´ Sohn/Margaritas Bruder Giannos liegt kein Bericht vor. Daneben kommen weitere (Neben-)Charaktere zu Wort und ein auktorialer Erzähler, sodass es wechselnde Erzählperspektiven gibt. 

Der zweite Teil heißt Aus Iokastes Aufzeichnungen, Iokaste ist Lefkis´ Tochter. Auch dieser Teil ist ein Selbstzeugnis aus der Ich-Perspektive, nimmt aber, anders als der erste Teil, Bezug auf die anderen Personen. Hier entfalten sich nun Rahmen- und Binnenhandlung. 

Rahmenhandlung
Um an der Beerdigung ihrer Urgroßmutter teilzunehmen, reist ihre Enkelin Iokaste zum ersten Mal in ihrem Leben nach Kalavryta und hält sich einige Monate dort auf. Dabei stößt sie auf das sogenannte „Manuskript des Försters“. 

Binnenhandlung 
Die Binnenhandlung machen Selbstzeugnisse und Berichte dieses Manuskripts aus, das eine Art Tagebuch ist. Es gibt viele Sprünge in Zeit und Darstellung, die Erinnerungen sind bruchstückhaft, widersprechen sich aber nicht. Uneinigkeit herrscht nur in Bezug auf die Frage nach dem Tod oder dem Überleben oder gar der Existenz von Athos.

Iokaste stellt deshalb den Inhalt des Manuskriptes in Frage. Denn ihr (und auch dem Leser) ist unklar, ob die Selbstzeugnisse von Athos, Marianthi und Margarita fiktiv sind oder nicht. Wie haben sie Eingang in das Manuskript gefunden? Und wie die Berichte von Iokastes Mutter Lefki, die dagegen sehr handfest und real daherkommen? Und wer ist der auktoriale Erzähler derjenigen Berichte, die nicht aus der Ich-Perspektive geschrieben wurden? Iokaste lässt diese Fragen offen. 

Psychotraumatologische Aspekte 
Zentrales Motiv im Roman ist das Massaker von Kalavryta als traumaauslösendes Ereignis. Und daraus ergibt sich das Thema des Romans, nämlich der jeweils individuelle Umgang der Überlebenden mit den Traumafolgen. Überlebende sind im Roman die Frauen, die zu Wort kommen.

Die Selbstzeugnisse berichten von einer vierjährigen Amnesie von Athos, als Folge der Erschießung, die er überlebte, eine Zeit, die sich mit der Dauer des griechischen Bürgerkrieges deckt und die er in seiner Försterhütte auf dem Berg verbrachte. Athos soll in dieser Zeit sogar verstummt sein. 

Über Giannos´ Tod sind sich alle einig. Von ihm gibt es, im Gegensatz zu seinem Vater, kein Selbstzeugnis. Unklar bleibt, ob Athos zu den Lebenden oder den Toten gehörte. Bis zum Buchende bleibt offen, ob er überlebt hat oder nicht. Abgesehen davon, dass Athos erst durch Lefki zum Reden gebracht wurde, ist interessant, dass auch nur sie ihn wiedersieht, die anderen, obgleich von seinem Überleben überzeugt, jedoch nicht. Athos, ob nun von Lefki erst erschaffen oder nicht, fungiert als rhetorische Figur, welche die anderen Charaktere benötigen, um ihren eigenen Umgang mit den psychotraumatischen Folgen darzustellen, anhand derer also die Traumafolgen dargestellt werden. Wenn wir umgekehrt davon ausgehen, dass Athos nicht von Lefki erschaffen worden ist, ließen sich ihm also folgende Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zuschreiben: Amnesie, eingeschränkte Zukunft, Entfremdungsgefühl, Aktivitäts- oder Situationsvermeidung, Gedanken- und Gefühlsvermeidung und belastende Träume bzw. Albträume (Maecker 2013, 18). 

Während sich Marianthi und Margarita der direkten Konfrontation mit dem Tod von Athos bzw. dem Massaker in Kalavryta verweigern, beschäftigt sich Lefki damit. Sie hat verstanden: „Wenn wir Jüngere uns an die Kriegsverbrechen erinnern, erleichtern wir unseren Eltern und Großeltern, die sie tatsächlich erlitten haben, das Vergessen.“ Iokaste spricht jedoch auch von der „existenziellen Dauertrauer“ ihrer Mutter Lefki. 

Lefki gehört zur ersten Generation, die sich erinnert und Kalavryta nicht selbst miterlebt hat. Dennoch ist auch Lefki von den Traumafolgen betroffen, denn sie fühlte, „dass es ihre Pflicht und Schuldigkeit war, dem Toten [Athos] zu seinem Recht zu verhelfen und ihn wieder ins Leben zurückzuholen.“ Lefki soll Athos zum Reden gebracht haben. Sinnbildlich kann man diese Aussage auch anders interpretieren: Athos ist gestorben, aber anhand der Figur Athos ermöglichte es Lefki ihrer Großmutter und ihrer Mutter, ansatzweise zu sprechen, hat also für sie einen Weg für die Narration des unaussprechlichen Ereignisses geschaffen. 

Bei Lefki zeigen sich keine Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Vielmehr ist sie so sehr von den Traumafolgen ihrer Mutter und Großmutter geprägt, dass diese starke Einbindung in das familiäre Trauma ein großer Teil ihrer Identität ist und sie nicht anders kann, als sich ebenfalls intensiv damit zu beschäftigen. 

Iokaste gehört zur ersten Generation nach der Generation der Erinnerung. Sie selbst ist der Ansicht, dass sie von den Traumafolgen nicht betroffen ist, dass sie aus dem geschlossenen Schicksalsring ausbrechen konnte. Sie zeigt keine Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung, stellt sogar in Frage, ob es Athos überhaupt gegeben hat. 

Fazit 
Die literarische Verarbeitung des Massakers von Kalavryta erfolgt durch die Verwendung von Elementen aus Postmemory-Romanen und der Traumafiction. Das Werk repräsentiert das Postmemory-Konzept: Lefki gehört zur ersten Generation, die Kalavryta nicht mehr erlebt hat, aber von den Erinnerungshandlungen geprägt ist. Erst Iokaste repräsentiert die Postmemory-Generation, also diejenige, der es überhaupt erst möglich ist, nicht nur das Ereignis, sondern auch die Erinnerungen an das Ereignis von außen distanziert zu betrachten. Darüber hinaus ist der Roman aus dem Genre der sogenannten Trauma-Fiction, denn er inszeniert auf textueller Ebene neben Denk- und Gedächtnisprozessen vor allem Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung – insbesondere bei Marianthi und Margarita, aber auch Athos, wenn wir einmal annehmen, er habe auf irgendeine Art und Weise tatsächlich überlebt. Nicht zuletzt werden auch der Traumabegriff und seine Bedeutung im Allgemeinen behandelt. Dialektischen Charakter erhält das Werk gewissermaßen dadurch, dass einerseits die Frage, ob Athos überlebt hat oder nicht, offengelassen wird, zugleich aber auch a priori die Rahmenhandlung die Binnenhandlung infrage stellt. Athos könnte pure Fiktion sein, die anderen Charaktere aber auch. 

Die Figur Athos ist im Werk ein Maßstab. Durch sie wird die Narration über das traumaauslösende Ereignis, das sich sonst nicht in Worte fassen ließe, erst möglich. An dem Grad der Narration der Charaktere lassen sich dann ihre individuellen Bewältigungsprozesse ablesen. 

Mehr zum Buch und der deutschen Übersetzung bei Diablog. Mehr über das Massaker am 13. Dezember 1943 in Kalavryta erfahren Sie hier auf agorayouth.


Quellen 
– Περαντωνάκης, Γιώργος: 13.12.1943, Εφημερίδα των Συντακτών, 17.5.2015, unter: https://www.efsyn.gr/tehnes/ekdoseis-biblia/anoihto-biblio/26840_13121943 (zuletzt abgerufen am 09.05.2021). 

– Maecker, Andreas: Posttraumatische Belastungsstörungen. Mit 35 Abbildungen und 40 Tabellen. Heidelberg 2013. 


Text: Raphael Irmer
Foto: Lisa Brüßler

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