Von Freiburg ins griechische Dorf Galaxidi. Eigentlich wollte die 19-Jährige Xinhui Li einen Freiwilligendienst in Indien machen. Durch die Corona-Pandemie wurde es dann Griechenland. In dem Jahr in der Wohn- und Lebensgemeinschaft Estia lernte sie viel über das Zusammenleben mit Menschen mit Behinderung – und sich selbst.
Xinni, bis September 2021 warst du für einen Europäischen Freiwilligendienst in Griechenland – jetzt machst du gerade ein Freies Soziales Jahr in der Kindernotaufnahme in Ravensburg und wartest auf den Beginn deines Medizinstudiums. Wolltest du nach Griechenland oder war es Zufall, dass du dort gelandet bist?
Xinhui Li: Es war ein richtiger Zufall – und letztendlich das Beste, was mir passieren konnte. Eigentlich wollte ich einen entwicklungspolitischen Dienst in Indien in einem Kultur- und Kunstprojekt machen. Nachdem der Dienst abgesagt wurde wegen der Pandemie, hatte ich gar keine Idee was ich machen soll. Dann hat mir meine Organisation einige Alternativangebote für Frankreich, Israel und Griechenland gemacht. Ich komme aus Freiburg und war schon öfters in Frankreich. Deshalb wollte ich ein völlig neues Land entdecken. Zu Schulzeiten hatte ich mal ein Praktikum gemacht, bei dem ich mit Kindern mit Behinderung gearbeitet hatte und dann habe ich entschieden, dass es die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft in Galaxidi werden soll, in der ich mit Erwachsenen mit geistiger Behinderung arbeiten würde.
Was wusstest du denn über Griechenland als du im September 2020 aufgebrochen bist?
Ich hatte Altgriechisch in der Schule, aber über das moderne Griechenland wusste ich nicht viel oder nur das, was man aus dem Kreta-Urlaub mit der Familie kennt. Viele haben dieses Bild von Griechenland mit weißen Häusern und Kirchen mit blauen Dächern im Kopf – ich habe glaube ich zwei Mal solche Orte dort gesehen, ansonsten habe ich ein anderes Bild vom Land bekommen.
Was war dein erster Eindruck als du in Galaxidi angekommen bist?
Ich habe mir natürlich vorher Fotos und Videos angeschaut, aber als ich ankam, war alles ganz anders. Es war schon dunkel – ich habe nur Katzen, Hunde und die Zitronen- und Orangenhaine wahrgenommen und mein Haus in der Estia, in dem ich das Jahr verbringen würde. Aber ich wusste sofort, dass es ein toller Ort mit einer sehr schönen Atmosphäre ist.
Und wie war dein erstes Zusammentreffen mit den Bewohnern?
Am Anfang war ich sehr schüchtern und hatte Angst, wie ich mit den Bewohnern umgehen soll und, ob sie mich mögen. Zum Glück habe ich relativ schnell Griechisch gelernt. Es gab Tage, an denen wir nur Griechisch gesprochen haben und auch die Aufgaben wie Waschen, Pflege, Kochen und so weiter haben nur auf der Sprache stattgefunden. Deswegen hatte ich am Anfang das Gefühl, nur im Weg herumzustehen und gar nichts zu verstehen. Die Estia ist eine ganz eigene Welt und ich konnte dort Dinge machen, die mich in Deutschland mehr Überwindung kosten würden: Zum Beispiel gemeinsam singen in der Öffentlichkeit. Die Menschen verstellen sich nicht, das ist sehr angenehm. Ich habe nirgendwo so glückliche Menschen kennengelernt wie dort – auch wenn sie sich nicht ausgesucht haben, dort zu sein.
Welche Aufgaben sind dann in deinem Haus auf dich zugekommen?
In jedem Haus der Estia haben sechs Menschen mit Behinderung, eine Haushälterin, zwei Angestellte und drei bis vier Freiwillige gelebt – so zumindest die Theorie, denn in meinem Jahr dort hat sich das immer wieder geändert. Die Idee vor Ort ist, dass es um die Menschen und nicht ihr Behinderung geht und die Bewohner mündig zu behandeln. Ich habe oft elf Stunden am Tag gearbeitet: Wir haben alle zusammen gelebt, gekocht und gegessen und Workshops etwa zu Töpfern, Schmuckherstellung oder Gartenarbeit gemacht. Im Herbst haben wir zum Beispiel die 30 Zitronenbäume oder danach die Olivenbäume zusammen abgeerntet – alle gemeinsam und jeder in seinem Tempo. Das kam mir vor, wie eine nicht versiegende Quelle: Oft haben wir in der Mittagspause zusammen Zitronenlimo gemacht oder einen Zitronenkuchen gebacken.
„Bewohner, die zum Beispiel wenig gesprochen haben, haben im Musik-Workshop mitgesungen und mitgetanzt. Musik verbindet Menschen.“
Xinhui Li, 19
Und hast du auch ein eigenes kleines Projekt gehabt?
Ja, ich habe zusammen mit anderen Freiwilligen die Musik und Kunst-Aktivität geleitet, obwohl ich am Anfang gar kein Griechisch konnte und auch nicht sehr musikalisch war. Aber wir haben oft abends zusammen getanzt, gesungen, viel Rembetiko und Laiko-Lieder gehört. In meinem zweiten Halbjahr habe ich auch aus dem Ordner mit Liedern etwas herausgeholt und auf der Gitarre gespielt. Für mich war die Musik ein sehr gutes Mittel zur Kommunikation. Bewohner, die zum Beispiel wenig gesprochen haben, haben im Musik-Workshop mitgesungen und mitgetanzt. Musik verbindet Menschen.
Du bist in Corona-Zeiten dort angekommen. Hat die Pandemie deinen Dienst stark geprägt?
Ich glaube, ich war eine derjenigen, deren Projekt sich durch Corona am wenigsten verändert hat, dadurch, dass wir dort in einer eigenen Welt gelebt haben. Als ich ankam, war ich eine Woche in Quarantäne und danach habe ich Corona erstmal vergessen. Ich war allerdings hauptsächlich in Galaxidi, mal am Strand und beim Einkaufen, aber durch den Lockdown durften wir den Ort eine Zeit lang gar nicht verlassen. Ich bin also nicht viel gereist und hatte auch wenig Kontakt zu anderen Jugendlichen.
Corona wurde in jedem der drei Häuser anders gehandhabt und die Menschen hatten teils sehr unterschiedliche Meinungen – das war sehr interessant zu sehen. Ich fand, dass sich die Estia dadurch stark verändert hat: Es haben zum Beispiel viele Leute gekündigt wegen der Impf-Regelungen, die in Einrichtungen galten. Das war eine Zeit lang eine komische Situation, weil wir dadurch auch mehr Verantwortung übernehmen mussten.



War das dann einer der schwierigen Momente während deines Dienstes?
Gegen Ende meines Dienstes, als die eingespielten Freiwilligen gegangen waren, wollte ich mir viel Zeit für die neuen Freiwilligen nehmen, weil ich mich noch gut daran erinnern konnte, wie neu, aufgeregend und auch überfordernd die ersten Tage sind. Das war zu dem Zeitpunkt aber schwierig wegen des Personalmangels und das hat mich sehr frustriert. Ich glaube, dass man durch einen Freiwilligendienst viel über sich selbst lernen kann und an die eigenen Grenzen kommt. Das war bei mir im Dezember so: Ich dachte, dass ich alles immer perfekt machen muss, habe oft zu viel nachgedacht. Ich wollte natürlich vor den Bewohnern auch nicht zeigen, dass es mir nicht so gut geht. Das war eine Verkettung davon, dass ich über Wochen wenig Zeit für mich hatte, ich mich neben den Bewohnern auch noch um andere Freiwillige kümmern wollte und mich dann noch am Fuß verletzt habe. Silvester habe ich mir dann gesagt, dass ich besser auf mich aufpassen muss.
Die Zeit dort hat dich also auch verändert?
Ich bin viel selbstbewusster geworden, habe mehr Vertrauen in meine Fähigkeiten und stehe für meine Meinung ein. Am Anfang hatte ich sehr hohe Erwartungen an mich selbst und mit der Zeit habe ich gelernt, dass es viel mehr darum geht, sein Leben zu teilen, einfach da zu sein und zuzuhören.

Jetzt bist du schon eine Weile zurück in Deutschland. Gibt es etwas, das dir immer noch fehlt?
(lacht) Ja, das mediterrane Essen unserer Köchin! Ich habe sie zwar um einige Rezepte für Spanakopita, Gemista, Tirokafteri, Tzatziki und Co. gebeten, aber das ist hier nicht dasselbe: Wir haben in der Estia viel Gemüse selbst angebaut im Garten, der Feta kam von einem Schäfer aus der Nähe. Ich bin das ganze Jahr über im Meer schwimmen gewesen, das vermisse ich. Aber am meisten fehlt mir die Gemeinschaft: Es war nicht leicht zu verstehen, dass ich für die Bewohner nur eine Freiwillige von vielen bin. Ich dachte: „Die können mich ja nicht einfach wieder vergessen.“ Aber natürlich sind sie an das Kommen und Gehen gewöhnt und müssen es auch sein.
Dein Einsatz dort war ja von viel Nähe geprägt – wie ist das jetzt in deinem FSJ in der Kindernotaufnahme?
Das Jahr hat mich sehr darin bestärkt, dass ich etwas Soziales mit Menschen machen möchte. In Galaxidi gab sehr viel Harmonie und es wurde Wert auf Entscheidungen im Team gelegt. Die Arbeit hier im Krankenhaus ist im Gegensatz dazu oft sehr bürokratisch und zu meinen Arbeitskollegen habe ich natürlich nicht so ein enges Verhältnis wie in der Estia. Die Hierarchie im Krankenhaus ist zu spüren und es gibt viele Dinge, die besser laufen könnten. Auch hat man viel mehr Distanz zu den Patienten und nicht so viel Zeit. Das wird später als Ärztin bestimmt genauso sein – aber die Erinnerungen an meinen Freiwilligendienst werde mich immer begleiten.
Interview: Lisa Brüßler
Fotos: Xinhui Li