Stela Anastasaki aus Thessaloniki war mit ihrem Projekt „TakTil“ Teil des diesjährigen START-Jahrgangs für junge Kulturmanager in Griechenland. Sechs Wochen lang half sie dem Ahlener Bürgerzentrum Schuhfabrik, inklusiver für Menschen mit Sehbeinträchtigung zu werden. Im Interview erzählt sie, warum Zugang zu Kunst und Kultur für sie kein Privileg, sondern ein essentielles demokratisches Recht ist.
Agorayouth: Stela, du hast Archäologie, Geschichte und Kunstgeschichte studiert. Wo bist du mit dem Thema Inklusion in Berührung gekommen, sodass du ein eigenes Projekt für Menschen mit Sehbeeinträchtigung umsetzen wolltest?
Stela Anastasaki: Kunst ist meine Leidenschaft. Nach Ende meines Studiums habe ich knapp acht Jahre lang als Kuratorin für Bildungsprojekte im Macedonian Museum of Contemporary Art in Thessaloniki gearbeitet. Es ging dort vor allem darum, das Publikum über partizipative Methoden dazu einzuladen, sich mit den vielseitigen Aspekten von Kunst auseinanderzusetzen. Bei Führungen mit unterschiedlichen Alters- und Zielgruppen, habe ich mehr über deren Bedürfnisse erfahren und konnte die Angebote besser zuschneiden. Gleichzeitig ist mir aufgefallen, dass ich kein einziges Mal eine Gruppe von Menschen mit Sehbeeinträchtigung im Museum hatte.
Agorayouth: Und daran wolltest du etwas ändern?
Ja, vor zwei Jahren habe ich ein Projekt bzw. die Ausstellung „Matter over Matter“ von Künstlern und 3D-Designern in Thessaloniki und Bucharest co-kuratiert, bei dem der Tastsinn im Fokus stand. Das war quasi unser erster Versuch, inklusiv zu arbeiten und Menschen mit Seheinschränkung Zugang zu Kunst zu verschaffen über die 3D-Technologie. Diese Erfahrung hat dazu geführt, dass ich mehr über inklusive Methoden, Tools und Praktiken herausfinden wollte.
Agorayouth: Und das war dann auch der Startschuss für dein Miniprojekt „TakTil“, mit dem du dich für das START-Programm beworben hast?
Genau, TakTil ist das greifbare Ergebnis dieses ganzen Prozesses. Ich habe mich darauf fokussiert, eine Gruppe von Menschen mit Seheinschränkung zu finden, um mit ihnen über ihre Perspektive und ihren Alltag ins Gespräch zu kommen. So hatte ich die Chance, meine eigene Perspektive zu verändern und die Bedürfnisse besser zu verstehen statt nur meine eigene Sichtweise als Maßstab zu nehmen.
Agorayouth: Von Thessaloniki ging es dann im Frühherbst für sechs Wochen in das beschauliche Ahlen in Nordrhein-Westfalen zum Bürgerzentrum Schuhfabrik. Was war dein erster Eindruck von dem Ort?
Das Bürgerzentrum Schuhfabrik ist ein lebhaftes soziokulturelles Zentrum – und das seit 35 Jahren. Wie der Name schon sagt, ist es eine ehemalige Schuhfabrik, in der Konzerte und Ausstellungen organisiert werden und der Dialog mit Bürgern und Einwanderern gesucht wird. Es gibt ein kleines Restaurant und eine Bar, in der sich die Menschen treffen und Ideen austauschen. Trotz dass es für alle Menschen und alle religiösen Hintergründe offen ist, ist es nicht komplett zugänglich für Menschen mit Behinderungen. Die Vision ist es aber, es zu werden und ich habe mich sehr gefreut, dass sie das Vertrauen hatten, den Ort für eine neue Zielgruppe zu öffnen und mich zu unterstützen und in die kleine Familie aufzunehmen.
Agorayouth: Die Idee des Projektes war es, eine Serie von mehreren Tafeln, die an öffentliche Gebäude in Ahlen angebracht werden sollten, zu entwickeln, um Barrierefreiheit zu stärken. Hast du das realisieren können?
Weil die Zeit mit sechs Wochen sehr begrenzt war, haben wir uns entschieden, uns auf eine Tafel zu beschränken und eine App zu testen. Diese Tafel wurde am Eingang zum Bürgerzentrum installiert. Sie besteht aus vier verschiedenen Elementen – alle in einem 3D-Druck-Format: Also erstens der Name und Fakten zum Bürgerzentrum als relief-Format, dann der Name und Basisinformationen in der Blindenschrift Braille auf Deutsch sowie zwei QR-Codes, die mit dem Handy gescannt werden können. Das funktioniert so: Der erste vermittelt Hinweise zu den Einrichtungen im Bürgerzentrum und der zweite erklärt die Geschichte des Gebäudes. Zuletzt gibt die Tafel auch Hinweise zur Orientierung, indem sie Norden kennzeichnen. Weil die meisten öffentlichen Gebäude in Deutschland älter sind, dachten wir, dass es gut ist, eine Idee von der Geschichte entstehen zu lassen.
Agorayouth: Erzähl uns doch ein bisschen mehr Details zur Technologie und den Tools, die ihr dafür genutzt habt.
Die Form der Information hat mehrere Zwecke: Der 3D-Druck ist eine neue Technologie, die sich bislang als sehr flexibel bewiesen hat, weil sie mehrere Tests bestanden hat als langlebiges und zu recyclendes Material. Die Sprachnachricht, die per QR-Code aktiviert wird, kann sehr leicht angewählt und per Kopfhörer abgehört werden. Für mich war es das zweite Mal, das ich mit dem 3D-Druck gearbeitet habe. In beiden Fällen war ich die Person, die die Vorarbeit für die Inhalte und Ideen für das Format entwickelt hat. Das Design kam immer von Experten. In der Schuhfabrik hat Jens Höckelmann die Drucke entwickelt und Änderungen vorgenommen. Es hat ein paar Tests gebraucht, bis wir die richtige Größe und Dicke der Drucke, die Dichte der Braille-Schrift und die Art des Druckens raus hatten.
Agorayouth: Du hast diese Ideen in einem Praxistest von blinden und sehbehinderten Menschen testen lassen. Wie lief das ab?
Der Test war sowohl effizient, als auch ziemlich emotional. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die meisten Menschen noch nie einen 3D-Druck angefasst hatten, insbesondere die Älteren. Es hat mich sehr berührt, zu sehen, wie sie einen Artefakt entdecken, der sich mit ihren Bedürfnissen deckt. Gleichzeitig haben wir uns natürlich auch gefreut zu sehen, dass das, was wir entwickelt haben, effektiv ist oder wir einen Fehler noch korrigieren konnten durch ihre Rückmeldung.
Agorayouth: Und wie war deine Testgruppe zusammengesetzt?
Es waren hauptsächlich ältere Menschen, sodass der Kontakt zugleich herausfordernd und bereichernd war. Heraufordernd, weil diese Menschen mit Seheinschränkung manchmal auch nicht mehr so gut gehört haben. Da meine Deutschkenntnisse sehr begrenzt sind, musste ich schnell andere Wege der Kommunikation finden. Das war bereichernd, weil dieser ganze Prozess meine Kommunikationsfähigkeit sehr gestärkt hat und mir gleichzeitig gezeigt hat, dass es beim Design der Tools sinnvoll ist, auch den Verlust des Gehörs als einen weiteren Faktor einzubeziehen.
Agorayouth: Sind dir denn Unterschiede zu den Menschen in Griechenland, die eine Seheinschränkung haben, aufgefallen?
Ja, im Vergleich zu communities von blinden oder sehbehinderten Menschen in Griechenland ist mir aufgefallen, dass die meisten Menschen in Deutschland nicht gelernt haben die Blindenschrift Braille zu lesen – außer sie waren komplett blind. Daher hat sich jedes Angebot, dass ausschließlich Transkriptionen in Braille bot, als ineffektiv herausgestellt. Das führte dazu, dass wir die Sprachnachrichten bereitstellten.
Agorayouth: Inklusion und Barrierefreiheit sind für dich Aspekte des demokratischen Miteinanders und von Teilhabe. Was hat dir die Zeit in Ahlen diesbezüglich mitgegeben?
In den meisten Fällen bedeutet Barrierefreiheit nicht immer gleich Inklusion und über Inklusion wird meist nur in der Theorie und nicht in der Praxis gesprochen. Ich bin glücklich, das ich durch die Arbeit für und mit Menschen mit Seheinschränkung, meine Ideen in der Praxis testen konnte und von dem Prozess lernen konnte. Zugang zu Kunst und Kultur ist kein Privileg, sondern ein essentielles demokratisches Recht. Nach den sechs Wochen in Ahlen bin ich also mit einem Koffer voller Erfahrungen nach Griechenland zurückgekehrt. Insbesondere, weil alle Tester die Applikation nützlich und nötig befanden. Die meisten sagten, dass sie sich mehr solche Angebote wünschen. Das möchte ich nun für das Realisieren des Projekts in Griechenland nutzen.
Agorayouth: Vielen Dank für das Interview, Stela!
Interview: Lisa Brüßler
Fotos: Stela Anastasaki & Stefan Braunsmann
“START – Create Cultural Change” ist ein Programm der Robert Bosch Stiftung, das in Kooperation mit dem Goethe-Institut Thessaloniki und der Bundesvereinigung Soziokultureller Zentren e.V. durchgeführt wird, unterstützt durch die John S. Latsis Public Benefit Foundation und die Bodossaki Foundation. Weitere Informationen unter: bosch-stiftung.de/start l fb.com/startgreece l startgreece.net
Mehr zum START-Programm 2019 auf agorayouth gibt es hier und auch hier.
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