In einer WG leben bedeutet mehr als nur zusammen wohnen – eine WG ist oft auch Familienersatz. Erst recht, wenn man noch nie eine Familie hatte. Ronja Buggel arbeitet in Athen daran, die erste inklusive Wohngemeinschaft zu gründen. Doch was in Deutschland mittlerweile normal ist, hat in Griechenland viel Skandalpotential.
Es riecht nach Urin als Ronja Buggel das Gitter des Bettes von Paraskevi öffnet und die 15-Jährige begrüßt. „Zouzounaki mou“, sagt sie, „ti kaneis simera?“ –„wie geht es dir heute, meine kleine Honigbiene?“ Paraskevi kann nicht mit Worten antworten, aber sie lacht. So doll, dass ihr Gesicht fast verkrampft. Sie freut sich, dass Ronja sanft mit ihr spricht, sie kitzelt, ihr liebevoll einen Kuss auf die Stirn drückt. Die Vorhänge in dem Zimmer mit den acht Betten sind zugezogen. Es fällt schwer, das Alter der Kinder und Jugendlichen zu schätzen, sie auseinanderzuhalten, denn alle haben zentimeterkurz geschnittene Haare. „So sind sie geschlechtslos, das ist gewollt“, erklärt Ronja. Außerdem ist es praktisch: Die Pflege und Versorgung der Kinder ist hier Fließbandarbeit.
Im Nebenraum unterhalten sich die anderen Pfleger, die die Kinder und Jugendlichen betreuen, sie füttern, waschen und ihnen Medikamente geben. Ihre Uniform lässt keinen Zweifel daran, was dieser Ort war, ist und auch in Zukunft sein wird: Eine Pflegeeinrichtung des Staates für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen. Das Rehabilitation Center for Disabled Children of Attica (PIKPA) liegt im reichen Süden Athens mit all seinen Cafés und Strandclubs. Dort, zwischen den beiden Vororten Voula und Glyfada, wirkt die marode Einrichtung wie eine Insel. Eine eigene Welt mit Schule, Wäscherei, Strandzugang – aber eben auch mit einem hohen Zaun. Viele Stadtbewohner wissen gar nicht, dass es die Kinder hier gibt.
Normalität als Highlight
Ronja trägt normale Kleidung. Die studierte Pädagogin will den Bewohnern von PIKPA nicht als Kranken begegnen, sondern sie als Individuen mit eigenen Bedürfnissen wahrnehmen. Dutzende Babys, Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Beeinträchtigungen leben hier. Die meisten von ihnen wurden von ihren Eltern weggegeben. Kaum jemand hat Kontakt zu ihnen. Schule, Physiotherapie, Essen – es gibt eine tägliche Routine, die durch soziale Aktivitäten der in der Einrichtung angesiedelten NGO Tandem ergänzt wird. Ein Highlight für viele Kinder: mal zusammen kochen, Musik machen, vorgelesen zu bekommen. Erst seit 2013 gibt es das Aktivitätenzentrum ermöglicht durch eine Spende der Spielzeugfirma Matell und als Ergebnis eines Kampfs gegen die Einrichtung selbst, die nur widerwillig eine Räumlichkeit zur Verfügung stellte.
Als Ronja Buggel mit 18 Jahren 2011 bei Tandem ihren Europäischen Freiwilligendienst in PIKPA ableistete, half sie dem Pflegepersonal bei der Arbeit und bekam mit, wie von einem Tag auf den anderen junge Bewohner nicht mehr da waren, ihr gewohntes Umfeld ohne Mitspracherecht und ohne Vorwarnung verloren, weil sie altersbedingt in eine andere Institution wechseln mussten. „Mir ist erst später bewusst geworden, wie gewaltig ein solcher Wechsel sein muss – sie kannten ja oft gar nichts anderes“, sagt sie.
Inklusives Leben in Griechenland
Nach ihrem Freiwilligendienst in Athen studierte sie Rehabilitationspädagogik in Berlin. Aber auch dort ließ PIKPA sie nicht los: „Solange die Menschen weiter in Großheimen wohnen, wird die Mehrheitsbevölkerung nicht belästigt mit dem Thema Inklusion“, sagt sie. Im Alltag sichtbar sind Menschen mit Behinderungen in Griechenland sowieso kaum: 30 oder 40 Zentimeter hohe Bordsteine, nicht funktionierende Fahrstühle, fehlende Rampen – die Liste an Hindernissen ist lang. Ronja will ein neues Bewusstsein schaffen: Mit dem ersten inklusiven Wohnprojekt Griechenlands. Ein Stück Familie, Teilhabe und Verlässlichkeit gewährleisten.
In einer barrierefreien Wohnung im Zentrum Athens sollen hoffentlich im kommenden Jahr drei Jugendliche aus der Institution mit drei jungen Menschen ohne Behinderung und mit Unterstützung von Ronja zusammenleben. Einziehen sollen Jugendliche, die etwa 20 Jahre alt sind – für griechische Verhältnisse ein relativ junges Alter zum Ausziehen von Zuhause. Doch Ronja ist es wichtig, dass sie so früh wie möglich aus der Institution abgekoppelt werden, um zu lernen, eigene Entscheidungen zu treffen. Eingezogen wird nur, wenn untereinander Sympathie besteht. Für eine WG-Kommunikation auf Augenhöhe dürfen die drei Bewohner mit Behinderungen allerdings keine größeren intellektuellen Einschränkungen haben und müssen sich relativ autonom bewegen können.Neue Formen des Zusammenlebens
„Es gibt hier nicht den einen Weg – ich gehe den jetzt als erste. Das kann natürlich auch positiv sein, weil du dich an weniger Richtlinien halten musst“, hofft Ronja Buggel. Trotzdem erwartet sie von griechischer Seite vor allem eins: Widerstand. „Die Menschen und auch die Behörden können sich ein solches Konzept nicht vorstellen, weil sie es für fahrlässig halten. Betreuung wird hier vor allem medizinisch verstanden“, erklärt sie. Mit der griechischen Organisation i-living, die sich für eine persönliche Assistenz für Menschen mit Behinderung einsetzt, konnte immerhin eine Kooperation entstehen. Die Bewohner sollen über Trainings herangeführt werden an verschiedene Themen und selbstständig Antworten finden auf alltägliche Fragen: Wie bewege ich mich in der Stadt mit dem Rollstuhl? Wo können Probleme beim Zusammenleben auftauchen? Oder aber: Wie gehe ich mit Geld um?
Der Kontakt mit deutschen Vereinen gestaltet sich einfacher: „Ich habe in Reutlingen eine inklusive WG besucht und mich daran erinnert, dass die Idee auch in Deutschland erst vor etwa 25 Jahren von Rudi Sack von Gemeinsam Leben Lernen ins Leben gerufen wurde“, erzählt Ronja Buggel. Mittlerweile ist ein Konzept daraus entstanden und es existieren etwa 30 Wohnungen in ganz Deutschland. Auch zur Plattform wohnsinn.org, die inklusive WGs vernetzt, hat sie guten Kontakt. Tobias Polsfuß, der die Plattform aufgebaut hat, und Ronja haben zusammen in PIKPA ihren Freiwilligendienst absolviert.
Was ist schon normal?
Aber nicht nur für die Bewohner wird die inklusive WG eine Bereicherung sein, glaubt Ronja Buggel. Auch für die Nachbarschaft ist sie eine Chance, das eigene Verständnis von Normalität zu hinterfragen und über Barrieren nachzudenken. Dass das nicht einfach wird, ist ihr bewusst: Als es um die öffentliche Unterstützung ihrer Idee ging, erfuhr sie eher negative Rückmeldungen von Organisationen aus dem Feld. „Das hat mich aber nicht demotiviert, sondern eher bestärkt darin, das zu provozieren. Wenn diese Organisationen nicht an Inklusion glauben und ein solches Projekt nicht riskieren wollen, wenn das kein Ziel ihrer Arbeit ist, dann wird sich nie etwas ändern“, kritisiert sie.
Um die WG bald Wirklichkeit werden zu lassen, gründen Ronja und einige griechische Mitstreiter eine NGO, damit sie sich auf Stipendien und Fördermittel bewerben können. Für die junge Deutsche ist klar, dass sie in Griechenland bleiben wird. „Ich sehe eine andere Notwendigkeit hier als in Deutschland, mich für die Rechte von behinderten Kindern und Jugendlichen einzusetzen – auch wenn es für meinen Lebenslauf vielleicht nicht das Beste sein wird“, sagt sie lachend. Falls nötig, wird sie dies auch mit juristischer Unterstützung tun. „Wenn es die inklusive WG erstmal gibt und die Bewohner auf ihr Selbstbestimmungsrecht pochen, fehlt dem Gericht die Grundlage, solch eine Wohnform zu verbieten“, ist sie überzeugt.
Text und Fotos: Lisa Brüßler
Dieser Text ist zuerst auf sagwas.net unter https://sagwas.net/2018/04/ein-stueck-familie/ erschienen. Vielen Dank für die freundliche Genehmigung zur Zweitveröffentlichung.
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