Die Jugend in Zeiten der Krise – Geschichten aus Griechenland vom Schriftsteller Filippos Mandilaras. Teil IV. Übersetzt aus dem Griechischen von Doris Wille
Teil I, Teil II und Teil III der Geschichte sind bereits erscheinen.
Genau das denkt auch Stratis, 15 Jahre, als er den Betrieb am Hafen von Lesbos beobachtet, dort, wo es am Kai vor Flüchtlingen nur so wimmelt: „Was für eine Ironie!“, denkt er. „Sie sind so froh, dass sie dem Krieg entkommen sind, dass sie Europa lebend erreicht haben, und wir teilen nicht einmal einen Zipfel von ihrer Freude mit ihnen. Wir betrachten sie voller Hass und warten ungeduldig darauf, dass sie weggeschickt werden. Sie besudeln uns, sie beschmutzen uns, sie versauen das schöne Bild und vertreiben uns die Touristen… Uns, die wir vor hundert Jahren an ihrer Stelle waren.“
Gerade gestern hat die Handelskammer der Stadt ein Protestschreiben an die zuständigen Ministerien geschickt und gefordert, dass der Hafen gesäubert wird, damit die Migranten, die sich dort drängen und auf das Linienschiff warten, nicht das Bild der Stadt kaputtmachen. Das Schlimmste ist für ihn jedenfalls, dass der Vorsitzende der Handelskammer, sein Papa, dieses Schreiben verfasste. Derjenige, der behauptet, dass er sich beim Lernen nicht kaputtzumachen braucht, weil schon ein fertiger Job auf ihn wartet: „Siehst du nicht, Stratis, wohin es mit dem Land geht? Wenn wir den Tourismus nicht hätten, wären wir verloren. Ein bisschen die Zimmer, ein bisschen das Geschäft, ein bisschen die Imbissbude im Sommer… Du brauchst nicht mehr, mein Junge. Die Welt geht zum Teufel, siehst du das nicht? Bei uns ist alles voll mit Leuten ohne Schuhe an den Füßen und mit Hunger im Bauch!“
Sein Papa, der die kleinen Wasserflaschen für einen Euro an Touristen und an Flüchtlinge verkauft, der beim Wechselgeld bescheißt, wenn er sieht, dass der Kunde sich mit Euros nicht richtig auskennt, der keine Quittung ausstellt, es sei denn, er hat gehört, dass die Steuerfahndung unterwegs ist, der die ganzen Jahre jedenfalls nichts gelernt hat und glaubt, dass der Staat ihn ständig bestiehlt, ihn betrügt und verarscht. Nein, Stratis ist kein Anhänger des Staates, er ist kein Kapitalist, er ist kein Anarchist. Er ist nicht rechts, er ist nicht links, er ist nicht in der Mitte. Er ist kein Faschist, er ist kein Kommunist, er ist kein Sozialist. Er ist 15 Jahre, verdammt, und will sein Leben vor sich haben. Nicht verpfändet. Ganz. Ein warmes Leben, quirlig, mit all seinen Säften und Düften. Und wenn es ihm hier nicht gelingt, in diesem Land, wo sie diese Sprache sprechen und der Himmel dieses Licht hat, im Sommer wie im Winter, dann geht er woandershin. Ein Neubeginn, aber keine neue Heimat. Die Heimat wird immer hier sein. So wie die Heimat dieser unglücklichen Menschen aus Syrien immer zurückbleiben wird, um in ihrem Blut zu verrosten. Es bleibt aber eine Heimat! Es sei denn, dass auch sie mit der Zeit verblasst… Kann eine Heimat eigentlich verblassen?
Über den Autor
Filippos Mandilaras Der Schriftsteller wurde 1965 in Athen geboren, studierte in Paris Literatur und begann nach seiner Rückkehr nach Griechenland zu schreiben, erst Kinderbücher, dann Romane für Jugendliche und junge Erwachsene. Eines seiner Hauptwerke ist „Yaines“ (Hyänen). Darin erzählt er die Geschichte einer 16-Jährigen, die in einem kollabierenden Griechenland allein in Athen überleben muss. Der Roman ist Teil einer Trilogie. Mandilaras erhielt 2014 den Griechischen Staatspreis für Jugendliteratur. Als Buch ist noch keines seiner Werke auf Deutsch erschienen. Es gibt aber Veröffentlichungen im Internet auf der Seite http://www.diablog.eu. Dort sind alle Texte auf Deutsch und Griechisch zu lesen. Mandilaras lebt mit Familie auf der Insel Chios.
Zuerst erschienen in der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Mit freundlicher Genehmigung übernommen.
Bild: Bestimmte Rechte vorbehalten von Nagarjun