Die Jugend in Zeiten der Krise – Geschichten aus Griechenland vom Schriftsteller Filippos Mandilaras. Teil II

Übersetzt aus dem Griechischen von Doris Wille

Teil I ist bereits erschienen – und hier zu finden.

Ja, das ist schlimm, würde Elli sagen, heute 22 Jahre, bekannter unter dem Pseudonym PRIMITIVE, mit dem sie ihre Graffiti in den Straßen von Athen signiert. Immer ohne Erlaubnis, so wie sie auch ohne Genehmigung mit riesigen Buchstaben SKLAVENHÄNDLER an die Mauer um Themis’ Felder schreiben würde, falls sie ihn kennen würde natürlich.

Elli und Themis hatten den gleichen Start: reiche Familien, fertige Jobs, Luxusleben in ihrer Kindheit… Nur, dass Elli ihren Weg in den südlichen Vororten von Athen begann und irgendwann in der Pubertät das Gefühl hatte, dass sie von der Welt, die sie erben würde, erschlagen wurde. Sie fühlte, dass sie erstickte, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Wortwörtlich durch das Tränengas der Sondereinheiten der Polizei, MAT, bei den Protestdemos für Alexis 2008, im übertragenden Sinne durch das Unrecht, das sie fühlte, weil auf diese Weise ein Junge in ihrem Alter sein Leben verloren hatte, der einer ihrer Kumpel hätte sein können. WARUM STEHLT IHR MIR DIE UNSTERBLICHKEIT? Das hätte sie damals an die Wände geschrieben, aber damals hatte sie von Graffiti und Street Art noch keine Ahnung. Sie wusste nichts vom echten Leben, außerhalb der sterilen, greisenhaften Ruhe von Voula und Vouliagmeni.

Merkwürdig, aber der Tod des Jungen erfüllte Elli mit Leben. Und wie viele sonst noch, wirst du mir sagen, die bis dahin bequem in ihren warmen Bettchen schliefen und sich nur Sorgen um ihre Klassenarbeit am nächsten Morgen machten oder darum, welche Klamotten sie auf der Party anziehen würden!

Elli wurde rebellisch, sie schaute dem Bullen in die Augen, nannte ihn Schwein – Mörder, sie schmiss ihm einen Marmorbrocken in die Fresse, legte einen Wahnsinnssprint ein, um nicht gepackt und mit dem Schlagstock windelweich geprügelt zu werden, sie hörte, wie sie ihr hinterher riefen, dass sie sie fertig machen werden, das kleine Luder, sie versteckte sich mit anderen, die sie nicht einmal kannte, in den Gassen, sie legte sich mit Typen von der Goldenen Morgenröte an, verbrachte drei, vier, ja fünf Nächte auf der Wache, eine im Krankenhaus mit zugeschwollenem Auge, sie lernte, immer Maaloxan, Wasser, Atemmaske, Taucherbrille und Mütze im Rucksack zu haben, sie lernte, Geheimpolizei, Faschos und Unbeteiligte zu unterscheiden, und schließlich lernte sie, was es heißt, mit Adrenalin im roten Bereich zu leben und es gefiel ihr. Sie fuhr voll darauf ab.

Seitdem war ihr Leben ein endloses Hin und Her zwischen Vouliagmeni – Syntagmaplatz, bis sie die Schule fertigmachte, in der Kunsthochschule aufgenommen wurde, was sie wollte, sie mit ihrer besten Freundin Anna nach Exarchia zog und anfing, mit ein paar Leuten von der Hochschule Straßentheater zu machen. Von Geld keine Rede: gerade mal genug, um klarzukommen. Ihre Familie pfiff aus dem letzten Loch, aber sie halfen ihr, wo sie konnten. Inzwischen war im Land der Teufel los: Memoranden wurden unterzeichnet, Regierungen wechselten, mal gingen wir pleite, dann wieder nicht, die Banken wurden bei jeder neuen Krise leer geräumt und füllten sich dann wieder, sobald das neue Memorandum abgesegnet war, die Leute von der Goldenen Morgenröte brachten Pakistaner um, verprügelten jeden, der kein Grieche war, terrorisierten alle, die anders waren, der Omoniaplatz war voll mit Migranten und Junkies, ganze Viertel wurden zu Gettos erklärt, Wutbürger überall, einige von ihnen zündeten sich selbst an, andere schliefen auf der Straße und alle warteten nur auf eine Gelegenheit, um zu explodieren. ZORN WUT RACHE. Das waren die ersten Wörter, die Elli 2013 zu Neujahr an die Wand des Mietshauses schrieb, wo sie wohnte.

Kurz darauf schloss sie sich den b-disorder an, einem Kollektiv visueller Künstler, und seitdem zog sie durch die Straßen, um auf Wände zu schreiben und zu malen. Zaghaft und ängstlich zu Beginn (wie die Kakerlake, die von einem Schlupfloch zum anderen rennt, die anderen mit mehr Erfahrung zogen sie auf), aber mit dem Mord an Fissas (1) legte sie los. RIP KILLAH P – 18.9.13 an jeder Wand, in jeder Größe, mit jedem Material, in jedem Moment, selbst bei den Treffpunkten der Faschos, die sich jetzt verkrochen hatten. Armselige Helden – widerwärtige Zuhälter. Und dabei kam ihr die Idee mit dem PRIMITIVE. „Wir sind es, die einer neuen Bewusstheit auf der Spur sind, meine Liebe“, sagte sie zu Anna mit vom Tränengas verquollenen Augen, das die Bullen kiloweise vor den Büros der Goldenen Morgenröte in der Mesogionstraße versprühten. Eine solche Wut hatte sie nicht erwartet, aber das viele Adrenalin wirkt immer positiv. „PRIMITIVE. So wie die ersten Menschen in Gruppen lebten, so werden wir auch in Kollektiven leben. So wie sie gemeinschaftlich Dinge schufen, so machen wir es auch. Wir sind dazu bestimmt, das Feuer zu erfinden, das Rad, den Tauschhandel. Die Instrumente dazu haben wir. Schluss mit dem Individualismus. Es lebe die Zusammenarbeit!“

Elli malt und schreibt heute weiter auf Wände, Leinwände und Papier. Sie glaubt, dass nur das Heute das Morgen schaffen kann. Das Gestern ist tot!

(1) Killah P, ein antifaschistischer Rapper, der am 19. September 2013 in Keratsini, einem Arbeiterviertel von Piräus, von einem Mitglied der Goldenen Morgenröte ermordet wurde. Fissas war unter dem Künstlernamen Killah P bekannt, was „Killah Past – Mörder der Vergangenheit“ bedeutet. Seine Ermordung wurde politischen Motiven zugeschrieben und war der Anlass für weitere Ermittlungen zu Straftaten und dem Bestehen einer kriminellen Vereinigung, in die viele einfache und führende Mitglieder der Goldenen Morgenröte verwickelt sind.

Fortsetzung folgt in kommenden Tagen

Über den Autor

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Filippos Mandilaras Der Schriftsteller wurde 1965 in Athen geboren, studierte in Paris Literatur und begann nach seiner Rückkehr nach Griechenland zu schreiben, erst Kinderbücher, dann Romane für Jugendliche und junge Erwachsene. Eines seiner Hauptwerke ist „Yaines“ (Hyänen). Darin erzählt er die Geschichte einer 16-Jährigen, die in einem kollabierenden Griechenland allein in Athen überleben muss. Der Roman ist Teil einer Trilogie. Mandilaras erhielt 2014 den Griechischen Staatspreis für Jugendliteratur. Als Buch ist noch keines seiner Werke auf Deutsch erschienen. Es gibt aber Veröffentlichungen im Internet auf der Seite http://www.diablog.eu. Dort sind alle Texte auf Deutsch und Griechisch zu lesen. Mandilaras lebt mit Familie auf der Insel Chios.

Zuerst erschienen in der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Mit freundlicher Genehmigung übernommen.

Bild: NamensnennungWeitergabe unter gleichen Bedingungen Bestimmte Rechte vorbehalten von Murplejane; privat

2 Gedanken zu “Das Gestern ist tot

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