«Die Wahrheit kennt weder Schwarz noch Weiß»

Der Stuttgarter Konstantinos Kosmidis hat griechische Wurzeln: Sein Vater flüchtete 1968 aus Griechenland. Politik und Geschichte spielten immer eine große Rolle in der Familie. Da ist es kein Zufall, dass Kosmidis im Bereich Integrationspolitik der Stadt Stuttgart arbeitet. Ein Text darüber, wie er zur politischen Bildung kam und warum es ihm so wichtig ist, dass Menschen nicht zum Spielball der Extreme werden.

Ich habe neulich in einem Telefongespräch von meiner Mutter etwas erfahren, das ich nicht wusste. Es hat mich zum Nachdenken gebracht und mich bestimmte Aspekte aus der Vergangenheit in einem neuen Licht sehen lassen. Meine Oma verstarb an Hautkrebs. Mir war allerdings nicht bewusst, dass dieser Hautkrebs nicht Ergebnis ihrer Sonnenexposition, ihres Lebensstils oder gar ihrer Ernährung war, sondern eine Metastase ihres Pankreaskarzinoms. Ein Tod durch Hautkrebs wäre in ihrem Fall eigentlich verwunderlich, denn meine Oma war zäh, ihre Hautfarbe sehr dunkel und ihr Leben von Feldarbeit unter der mediterranen Sonne geprägt. Sie verstand es noch bis in ihr hohes Alter von über 80 Jahren, sich mit Gemüse und Kräutern aus ihrem Garten zu versorgen. Sie ging fischen im Fluss und trotzte so ziemlich allen Absonderlichkeiten, die ihr das Leben zu bieten hatte – aber wahrscheinlich nur scheinbar.

Denn wie soll man das alles verdauen, was sie erlebt hat? Sie wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ältestes Kind in eine Großgrundbesitzer-Familie im damals noch zaristischen Schwarzmeeridyll Suchumi geboren. Sie erlebte, wie ihre Mutter nach der Geburt des einzigen Bruders, des fünften überlebenden Kindes, am Kindbettfieber starb. Wie ihr Vater im georgischen Bürgerkrieg von anderen Großgrundbesitzern gemeuchelt wurde und wie sie gemeinsam mit ihren vier Geschwistern vor dem anrollenden russischen Bürgerkrieg flüchten musste.

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Der Stuttgarter Kostantinos Kosmidis arbeitet im Bereich Integration der Stadt Stuttgart.

Von Armut und Gewalt
In der neuen Heimat im Norden Griechenlands wartete das Landleben und die Trennung von ihren drei Schwestern auf sie. Lediglich ihren kleinen Bruder konnte sie in die neue Familie mitnehmen. In einer Bauernfamilie pontischer Kleinbauern erlebte sie bittere Armut in einem kargen Landstrich, einen griechisch-türkischen Krieg, der ihren Ehemann in einen Menschen verwandelte, der seine Zeit lieber mit Tieren und Tabak, als mit Menschen verbrachte. Und einen zweiten Weltkrieg, der aus der griechischen Gesellschaft  eine Bürgerkriegsgesellschaft formte. In dieser Zeit brachte sie sieben Kinder zur Welt, fünf davon überlebten.

Dennoch musste sie als Mutter von fünf Kindern im Bürgerkrieg hinter Gitter und wurde über Monate hinweg grausam gefoltert, während ihre Familie hungerte und bangte. Sie erlebte schwere Nachkriegsjahre geprägt von Armut, Angst, Rassismus und aufkeimender Hoffnung, bis alle ihre Kinder nach und nach das Land verließen, weil die Umstände nie wirklich besser wurden. Dass diese Frau ihren Kummer und die Verluste immer und immer wieder herunterschlucken musste, um zu überleben, liegt auf der Hand. Wahrscheinlich ist dies einer der Gründe, wieso ihr Innerstes die Schwere, die alle diese Erfahrungen bedeuteten, nicht mehr ertragen wollte.

Sie war gezeichnet von der Vergiftung, die die politischen Diskurse im 20. Jahrhundert in Griechenland mit sich brachten. Sie kam aus dem multikulturellen Schwarzmeerraum in ein von ethnischer Säuberung und Nationalismus geprägtes Land. Die zutiefst nationalistischen Narrative der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts boten ihr nie eine geistige Heimat. Dafür wusste sie einfach zu viel und hatte zu viel gesehen. Für neu Zugewanderte gab es keinen Platz am großen Tisch und niemanden, der sich ihnen mit Verständnis, Respekt und Akzeptanz widmete. Die einzige Alternative, die sich ihr als Analphabetin bot, war der Kommunismus, den sie dankbar und treu bis in den Tod annahm.

Erfolg der kommunistischen Propaganda
Was blieb ihr übrig? Woher hätte sie wissen sollen, dass Menschen wie sie, in der von den griechischen Kommunisten vergötterten Sowjetunion, im Zuge der Zwangskollektivierung und der sogenannten Entkulakisierung unter Stalins blutiger Herrschaft nur das Schicksal des Gulag-Systems blieb? Niemand konnte und wollte es ihr erzählen. Sie hätte es nie realisieren können. Sie starb kurz bevor die Berliner Mauer fiel, denn das hätte sie vermutlich nie überleben können. Ihr Leben lang schmerzte sie der Verlust ihrer alten Heimat. Sie redete sich ein, dass es ihr in der Sowjetunion viel besser ergangen wäre und hasste Griechenland deswegen. Die kommunistische Propaganda war erfolgreich.

Mein Vater war ihr liebster und jüngster Sohn. Derjenige, der in der Familie am höchsten gebildet war. Er war, wie viele andere in der Familie, kein glühender Kommunist. Dennoch musste auch er darunter leiden, dass es im nationalistischen Griechenland nur Patrioten oder kommunistische Verräter gab. Als überzeugter Sozialdemokrat ließ er sich nicht von den Extremen beirren. Seine Idole waren Politiker wie Salvador Allende, Willi Brandt, Olof Palme oder andere tragische Helden der gemäßigten Linken. Menschen, die mit ihrer Haltung für eine Politik des Mutes, der Ehrlichkeit und der Uneigennützigkeit standen. Qualitäten, die den meisten griechischen Politikern der Zeit scheinbar fern waren.

Per Flugzeug an die Wahlurne
Er war Parteimitglied der sozialdemokratisch dominierten Zentrumsunion. Eine Partei, die es im Griechenland der 60er Jahre trotz Wahlfälschungen schaffte, die Verhältnisse umzukehren und die politische Rechte, sowie ihren übersteigerten Nationalismus an den Urnen den Weg auf die Oppositionsbank wies. Er wurde über Nacht aus seinem Traum gerissen und Zeuge einer faschistoiden Militärdiktatur, die viele Andersdenkende drangsalierte und auch ihn zu ersticken drohte. Mein Vater hasste Griechenland dafür. Ein Teil seines Hasses blieb ein Leben lang erhalten.

Das Bild von einer Politik, die keine Kompromisse kennt und Linke an die Wand stellt, ist etwas, das er auch mir weitergab. Ebenso wie das Bild, dass Politik ein schmutziges Geschäft sei, voll von abscheulichen Ellbogen-Menschen, die nur Deutungsmacht und Eigeninteresse kennen. Trotzdem flog er alle vier Jahre zur Wahl nach Griechenland, um das geringste Übel zu wählen.

Demokratie fand für ihn nur in Griechenland statt. Und dennoch freute er sich wie ein Kind, als Gerhard Schröder (SPD) 1998 die Ära Kohl ein für alle Mal beendete. Der geheime Wunsch meines Vaters war es, in der Politik mitmischen zu können. Er war ein wachsamer und guter politischer Kommentator, zugleich ein Mann von Haltung und kritischem Bewusstsein. Glücklicherweise konnte dies auch an mich weitergeben. Leider durfte er nie erleben, wie durch mich ein kleiner Teil seines Traumes Realität wurde.

Sein Sohn sollte in der neuen Heimat Deutschland Politikwissenschaft studieren und im Gegensatz zu den Prognosen einiger Leute einen Job mit starkem kommunal- und integrationspolitischem Bezug finden. Einen Job, in dem es nicht darum geht, sich zu bereichern oder eigennützige Narrative zu setzen. Einen Job, der nicht im Mittelpunkt parteipolitischer Taktik steht.

„Hallo Demokratie“
Ich bin Koordinator des Projekts „Hallo Demokratie“ in Stuttgart. Ein Projekt, auf das ich mit Stolz blicke, weil ich es von Anfang mit entwickeln durfte. In diesem Projekt unterstütze ich junge Menschen aller Couleur dabei, neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen Demokratie und die Offenheit ihrer neuen Heimat nahezubringen. Auf dass sie nie Spielball der Extreme werden, wie etwa meine Oma. Es ist für mich ein Job, der das Allgemeinwohl fördert. Einer, der wie mein Vater zu sagen pflegte, den Menschen gut tut und der jeden Cent wert ist.

Integrationsbericht

Integration ist für Kostas Kosmidis (5.v.r.) ein Thema, das seine Wurzeln in seiner Familiengeschichte hat.

Es ist eine starke emotionale Verbindung, die ich zu meiner Arbeit habe. Ohne die Geschichte meiner Oma oder meines Vaters ist sie völlig undenkbar. In gewisser Weise leben die Sehnsüchte meiner Oma nach einer offenen und sie aufnehmenden neuen Heimat und die meines Vaters nach einer fairen Demokratie in mir weiter. Das betrachte ich als trans-generationales Projekt. In gewisser Art und Weise haben die Erfahrungen meiner Vorfahren meinen Weg vorherbestimmt.

Glück empfinde ich auch dabei, dass ich meinen beiden Kindern, die fünf und drei Jahre alt sind, bereits jetzt vermitteln kann, dass ihnen viele Wege in ihrer Heimat offen stehen und dass die Wahrheit weder Schwarz noch Weiß kennt. Sie wachsen weit weg von Kriegen und harten Zeiten auf – Corona hin oder her. Vielfalt ist das Element, in dem sie schwimmen lernen und dafür bin ich sehr dankbar.

Text: Kostantinos Kosmidis
Fotos: Kostantinos Kosmidis und stuttgart.de

Konstantinos Kosmidis hat Sozialwissenschaften studiert und arbeitet seit 2011 bei der Stadt Stuttgart in Bereich Politische Bildung bei der Abteilung für Integrationspolitik. Zudem ist er Dozent für Migrationssoziologie an der Dualen Hochschule BW und seit 2018 koordiniert er das Stuttgarter Projekt „Hallo Demokratie“. 

In einem zweiten Text von Kosmidis, der Kurzgeschichte „Corned Beef“, geht es um Erinnerungen an Kriege und ihre Folgen.

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