Gedenkstättenfahrten nach Griechenland – auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Thematik für Schulfahrten. Bisher steht eher das klassische Griechenland hoch im Kurs. Doch wie können Schulprojekte zu einem Thema der jüngeren Geschichte umgesetzt werden? Dieser Frage ginge 31 Lehrkräfte aus Rheinland-Pfalz, Thüringen und Sachsen-Anhalt auf Kreta auf den Grund. Auf welche Wissenslücken und blinde Flecken in den Geschichtsbüchern sie stießen, hat Bettina Münch-Rosenthal für agorayouth notiert.
Der Ansatz, das Verständnis für andere Nationen über Projekte zur Gedenkstätten und Erinnerungskultur zu fördern, ist zwar nicht neu in der pädagogischen Arbeit von Schulen im europäischen Kontext. Für Schulprojekte mit Griechenland ist er aber bisher kaum verbreitet und bekannt. Dafür gibt es neben finanziellen und organisatorischen Erschwernissen einen gewichtigen Grund. Die Zeit des Zweiten Weltkrieges und der damit verbundene deutschen Besatzungszeit – insbesondere die aus griechischer Sicht nicht abgeschlossene Frage der Reparationszahlungen – fanden bisher in der deutschen Öffentlichkeit, insbesondere im Studium und in der Ausbildung angehender Lehrer sowie im Geschichtsunterricht der Schulen kaum Beachtung.Daher führten bislang kaum Schülerbegegnungen zu diesem Thema nach Griechenland.
Wissen erweitern und in Kontakt kommen
An diesem fehlenden Wissen und am Nichtverstehen setzte bereits 2016 in Rheinland-Pfalz die Idee der Fortbildung von Lehrkräften zum Thema „Deutsch-griechische Beziehungen im 20./21.Jh.“ an. Die diesjährige Fahrt nach Kreta verfolgte erneut das Ziel, dass deutschen Lehrerinnen und Lehrern ihr Wissen über die Ihnen weitestgehend unbekannte griechische Geschichte des 20. und 21. Jahrhundert an konkreten historischen Orten erweitern, mit Kollegen aus den griechischen Schulen in Kontakt kommen und den jeweiligen Blickwinkel der anderen Nation auf die gemeinsame Geschichte kennenlernen. Mit diesem Perspektivwechsel sollte ein Fundament gelegt werden für zukünftige deutsch-griechische Schülerbegegnungen und Schulprojekte.
In Kooperation mit den Landesverbänden des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge, mit dem Bildungsministerium und dem Institut für Lehrerfortbildung in Rheinland-Pfalz traten daher im Frühjahr 2018 insgesamt 31 Lehrkräfte aus den Bundesländern Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Thüringen eine Reise nach Westkreta an. Sie stand unter dem Thema: „Friedenserziehung im deutsch-griechischen Dialog“.
Besuch von Erinnerungsorten auf Westkreta
Mit einer deutschen Historikerin und einem Künstler aus Chania suchte die Gruppe Erinnerungsorte auf und kam mit Zeitzeugen und Historikern ins Gespräch. Sie beschäftigten sich intensiv mit der Operation Merkur, der deutsche Besatzung Griechenlands, dem griechische Widerstand, dem Schicksal der jüdischen Gemeinde Kretas und der Erinnerungs- und Gedenkkultur auf Seiten der Kreter, der Deutschen sowie der Alliierten. Dazu gehörten auch Besuche der Friedhöfe in Maleme und Souda sowie der Märtyrerdörfer Kakopetros, Floria, Kandanos, Kondomari und der Synagoge von Chania. Dazu wurden auch aktuelle Aspekte der sogenannten „Schuldenkrise“ und Reparationsforderungen mit Historikern diskutiert. Engagierte Gespräche zur Frage von Schuld und Verantwortung begleiteten die Gruppe während der gesamten Fahrt.
Zweifellos einen Höhepunkt des Aufenthaltes auf Kreta – mit weitgehenden Folgen – bildete der Besuch der Vorführung des Dokumentarfilms „Flowers fade early – Kakopetros August 1944“ (Mattheios Franzeskakis, Viky Arvelaki). Der erschütternde Film, der beim Filmfestival in Chania (bisher das zweite Mal in Griechenland) aufgeführt wurde, verleiht Zeitzeugen aus dem (vorher von der deutschen Lehrergruppe zufällig besuchten) Dorf Kakopetros eine Stimme. Bei einer sog. „Vergeltungsaktion“ einer Truppeneinheit der deutschen Wehrmacht wurden dort 23 Menschen aus der Zivilbevölkerung ermordet und der Ort geplündert.
Die hochemotionalen Stimmung im Saal und die Reaktionen auf deutscher und griechischer Seite nach dem Film bestätigten, dass dieses Kapitel der deutsch-griechischen Geschichte noch lange nicht aufgearbeitet ist und die Mission der Fahrt in die richtige Richtung zielte. Der Film, die Anwesenheit der Protagonisten und die Kommentare der Zuschauer, die selbst Familienangehörige bei ähnlichen Aktionen der Wehrmacht verloren hatten, haben bis heute tiefe Eindrücke bei den Teilnehmern hinterlassen. Alle waren sich einig über den pädagogischen Wertes eines solchen Filmes an deutschen Schulen.
Nachdem die Regisseure erfahren hatten, dass deutsche Lehrer die Aufführung besuchten, baten sie uns um die Veröffentlichung ihrer Eindrücke. Insbesondere der ergreifende Brief eines deutschen Teilnehmers erregte große Aufmerksamkeit und wurde auf diversen Nachrichtenseiten in Kreta veröffentlicht (Brief eines Teilnehmers). Die Filmregisseure bemühen sich zurzeit, den Film mit deutschem Untertitel zu versehen und an diversen Orten in Rheinland-Pfalz und Thüringen für Schulgruppen zugänglich zu machen.
Austausch mit Lehrkräften an Schulen auf Kreta
Mit diesen Eindrücken im Gepäck kam es zu einem großen Treffen mit griechischen Lehrkräften in Chania. Die Herzlichkeit des Empfanges und das große Interesse der griechischen Lehrer an Projekten mit deutschen Schulen waren für alle überwältigend. Eine große Zahl von Lehrkräften an kretischen Grundschulen war vertreten, wo zum Erstaunen der deutschen Teilnehmer Deutsch als Fremdsprache unterrichtet wird. Das vielfältige Bild, das während des Aufenthaltes entstand, inspirierte die Planung zukünftiger Austausche. An der Umsetzung einiger konkreter Projektidee wird zurzeit aktiv in den einzelnen Schulen gearbeitet.
Alle Teilnehmer betonten am Ende der Studienfahrt nach Westkreta, einen tiefen Einblick in das heutige Griechenland gewonnen und sich mit der jüngeren Geschichte vor Ort vertraut gemacht zu haben. Vor allem die in deutschen Medien geführte Diskussion über die Reparationsforderungen der Griechen könnten nun vor einem ganz anderen Hintergrund beurteilt und eingeordnet werden.„Es war eine sehr intensive Begegnung mit der Geschichte, die uns sehr betroffen und nachdenklich gemacht hat“, aber auch „eine große Bereicherung und Erfahrung, die wir in unseren zukünftigen Unterricht einfließen lassen wollen“, resümierten die Teilnehmer: „Wir haben das vorher alles nicht gewusst…“.
Das gemeinsame Motto lautet nun: Wir können die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, aber wir können etwas dafür tun, dass sich junge Deutsche und junge Griechinnen und Griechen begegnen und verstehen lernen – und dass sie ihre Zukunft in einem friedlichen Europa gemeinsamen gestalten können.
Text und Fotos: Bettina Münch-Rosenthal (Fahrtenkoordinatorin in der Schulbehörde Rheinland-Pfalz (ADD))
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Die bisher fehlende Aufarbeitung erklärt auch das Ressentiment griechischer Eltern v.a. aus Kreta, ihre Kinder bei einem Schüleraustausch mit Deutschland in deutsche Gastfamilien zu schicken, wovon mir Kollegen, die im Schüleraustausch mit Griechenland engagiert sind, des öfteren berichtet haben. Hier scheint noch viel getan werden zu müssen. Auf einer Schulfahrt auf der „klassischen Tour“ erlebt man freilich nichts davon.
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Ein beispielhaftes und nachahmenswertes Projekt, welches Frau Münch-Rosenthal hier auf den Weg gebracht hat! Glückwunsch und weiterhin viel Erfolg! Mit herzlichen Grüssen aus Nürnberg, Brigitte Spuller
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Wie viel es hier noch aufzuarbeiten gibt und wie wichtig solche Projekte sind, durfte ich selbst in einer sehr persönlichen Begegnung erfahren, als ich nach meinem seit 1944 in Griechenland vermissten Großvater forschte. Er war als Wehrmachtssoldat an den deutschen Gräueltaten auf dem Peloponnes beteiligt und kam in dem Dorf Psari ums Leben.
Bei einem Besuch in Psari in diesem Sommer wurden wir mehr als herzlich aufgenommen. Es entstanden Freundschaften. Ich bin glücklich, durch diese Freundschaft vielleicht einen kleinen Beitrag zur Versöhnung und Verständigung beitragen zu können. Die für mich überwältigenden Eindrücke und Erfahrungen hielt ich in einem Blog fest: https://ttiemeier.de.
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