»Ziel ist es, dass keiner zurückbleibt« (Teil 4)

Die Corona-Pandemie geht in Europa in ihren fünften Monat. Vielerorts folgen weitere Lockerungen der Maßnahmen und eine „neue Realität“ des gesellschaftlichen Miteinanders wird sichtbar. Wie ist Jugendarbeit in Deutschland und Griechenland derzeit überhaupt möglich? Die Europäische Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte Weimar, die Organisation Perpato aus Komotini und das Youth Center of Epirus aus Ioannina geben Antworten in unserer vorerst letzten Folge der Reihe.

diskussion_gruppe1-1Markus, du bist Bildungsreferent für internationale Jugendarbeit bei der Europäischen Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte in Weimar. Für Leser, die euch nicht kennen: Zu welchen Themen arbeitet ihr verstärkt?
Markus Rebitschek: Die Stiftung »Europäische Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte Weimar« betreibt und unterhält die EJBW mit dem Ziel, politische (Jugend)Bildung zu fördern und zu ermöglichen. Ihr Auftrag ist es, entsprechende Maßnahmen und Veranstaltungen, insbesondere am Lernort Weimar, zu gestalten. Als Träger der freien Jugendhilfe ist sie ein Ort der Begegnung für junge Menschen, Multiplikator*innen und Fachkräfte aus dem In- und Ausland. Die EJBW ist dem Leitmotiv der Demokratiestärkung verpflichtet und folgt in ihrer pädagogischen Arbeit der Leitfrage: „Was stärkt und was gefährdet Demokratie?“

Und wie sieht das auf der internationalen Ebene aus?
Die „Internationale Jugendarbeit“ als einer der in der EJBW angesiedelten pädagogischen Bereiche folgt drei zentralen Themen: Menschen begegnen und kennenlernen, internationales Engagement fördern sowie die Qualität der internationalen Jugendarbeit in Thüringen weiterzuentwickeln. Mehr dazu hier. In Griechenland kooperieren wir unter anderem mit den Organisationen United Societies of Balkans (USB), SOCIAL YOUTH DEVELOPMENT CIVIL NONPROFIT SOCIETY (K.A.NE.), SIMMETECHO, PAIDIA EN DRASEI und EUphoria.

Wie haben sich eure Arbeit und Arbeitsprozesse in den letzten Wochen verändert?
Durch die Pandemie war auch die EJBW von Schließung betroffen. Dies betrifft die Einstellung des Gästebetriebes durch die Behörden, als auch den Wegfall von Belegungen.  Bedeutet hat das, dass Gruppen von Gästen ausblieben. Damit hat sich die Arbeit aller in der EJBW angesiedelten Bereiche massiv verändert. Im pädagogischen Bereich finden geplante Seminare, Begegnungen, Fortbildungen usw. derzeit nicht statt, wurden abgesagt oder in die zweite Hälfte des Jahres 2020 sowie Anfang 2021 verschoben. Natürlich betrifft dies auch die internationale Arbeit.

Wie plant ihr die kommenden Monate?
Unsere Pädagog*innen nutzen die Zeit, um Liegengebliebenes aufzuarbeiten, neue Seminarinhalte für laufende und kommende Vorhaben zu erarbeiten, Förderanträge für 2021 zu stellen sowie passende Onlineangebote zu erstellen und umzusetzen. Über alle Updates berichten wir auf unserer Facebook-Seite.


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Spyros, du engagierst dich beim Verein Perpato in Komotini im äußersten Nordosten Griechenlands. Auf welchen Personenkreis zielt ihr mit eurer Arbeit ab?
Dadanidis: Die Mitglieder von Perpato  sind meist Menschen mit Behinderungen wie etwa Bewegungsstörungen, die ihren Wohnsitz in der Stadt oder in der Umgebung haben. Es sind aber auch Menschen darunter, die einfach ihr Interesse an einer Gesellschaft mit weniger Diskriminierung bekunden wollen. Seit 2002 und bis zum heutigen Tag hat sich die Organisation zum Ziel gesetzt, all denjenigen die Möglichkeit einzuräumen, zu hören bzw. zu erfahren, dass eine Behinderung für keinen Menschen ein ‚Hemmschuh‘ darstellen sollte.

Und was heißt das in der Praxis?
Perpato unternimmt große Anstrengungen und kämpft gegen das Errichten von Barrieren gegen Menschen mit unterschiedlichen Körpern und von der Norm abweichenden Funktionen, d.h. wir starten Initiativen für behindertenfreundlichere Städte und gegen feindselige Haltungen gegenüber behinderten Menschen. Wir arbeiten mit verschiedenen Trägern in Deutschland und in den USA zusammen, wie zum Beispiel mit der Stiftung EVZ, Europeans for Peace, der Kreisau Initiative, LVR-Anna-Freud-Schule, der Akademie der Physiotherapie St. Elisabeth Gruppe sowie mit der demos foundation.

Und ihr habt ein Ausbildungszentrum für selbstständiges Leben.
Ja, das Ausbildungszentrum für selbstständiges Leben (Κέντρο εκπαίδευσης στην Αυτόνομη Διαβίωση) sowie auch das Unterkunfts- und Tagesbetreungszentrum (Κέντρο Διημέρευσης και ΗμερήσιαςΦροντίδας) stellen die Haupttätigkeit der Organisation dar. Die Aufgabe dieser zwei Zentren ist nicht die Beschäftigung von Behinderten, wie dies in Balkanländern und in entsprechenden Zentren gewöhnlich der Fall ist, sondern man verfolgt Strategien, die etwa in Deutschland und im Norden Europas zu finden sind: Diese bezwecken die Verbesserung des Alltags und wenden die Strategien an, die allen Auszubildenden die Möglichkeit eröffnen, Kontrolle über ihr Leben zu gewinnen und ihre Lebensart- und weise selbst zu wählen. Das gelingt mithilfe von Sitzungen mit Psychologen, Sozialarbeitern, Krankenpflegern, Sportlehrern, Ergo- und Physiotherapeuten.

Inwieweit wurde eure Arbeit durch die allgemeinen Maßnahmen des ‚Shutdowns‘ beeinträchtigt?
All die Sitzungen sind in der Pandemie unterbrochen worden. Wir haben – soweit dies möglich war – versucht, einige Leistungen zu Hause anzubieten, und zwar für die besonders Hilfsbedürftigen. Selbstverständlich wurden dabei immer die entsprechenden Sicherheits- und Gesundheitsmaßnahmen eingehalten. Es wäre eine fatale Entscheidung gewesen, alle Sitzungen abzubrechen. Stattdessen haben die Sitzungen, die man telefonisch wahrnehmen könnte, in dieser Zeit andere Formen angenommen und sich diesen außergewöhnlichen Umständen angepasst.

Und wie blicken Sie auf die nächsten Monate? Wo gibt es Probleme?
In den nächsten Tagen werden die Organisation sowie auch das Ausbildungs- und Unterkunftszentrum sukzessiv und vorsichtig ihre Arbeit wieder aufnehmen. Unser Ziel ist es, dass keiner und keine zurückbleibt. Selbstverständlich haben viele davor Angst, wieder aus dem Haus zu gehen, doch wir bleiben zuversichtlich und in hohem Maße verantwortungsvoll, um die Menschen bei uns zu schützen.


Dora Dace ZaimeDora, du bist Projektkoordinatorin und Vize-Präsidentin des Youth Center of Epirus in Ioannina. An welchen Projekten arbeitet ihr im Jugendzentrum?
Dace Dora Zaime: Wir arbeiten hauptsächlich mit lokalen Aktivitäten und internationalen Projekten für Jugendliche und junge Erwachsene. Das sind zum Beispiel Musikfestivals, Veranstaltungen, tägliche Bildungs- und Unterrichtsangebote, Jugendaustausche und Trainings. Wir fungieren auch als Europe Direct Information Center (EDIC). Normalerweise haben wir internationale Freiwillige in unserem Team, die Freizeitaktivitäten und non-formale Bildungsangebote für Kinder von Asylsuchende anbieten. Außerdem sind wir dabei, eine Unterkunft bzw. ein Zentrum für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, die nach Griechenland gekommen sind, zu eröffnen.

Hat sich eure Arbeit durch die Corona-Pandemie denn stark verändert?
Ja, es gab Aktivitäten, die wir bereits einige Tage bevor die Quarantäne in Griechenland angeordnet wurde gestoppt haben. Das betraf die Arbeit mit Kindern von Asylsuchenden und auch unsere täglichen Bildungsangebote. Als Organisation, die sehr aktiv im Kontakt mit der lokalen Bevölkerung steht, mussten wir die Sicherheitsvorkehrungen sehr ernst nehmen. Während der Quarantäne hat jeder von zuhause aus gearbeitet – was natürlich unsere Projekte beeinflusst hat. Die meiste Arbeit an internationalen Projekten verzögert sich, lokale Aktivitäten sind gestoppt.

Das EDIC ist zudem überschüttet mit Informationen, die von der Europäischen Union kommen und mit der Öffentlichkeit geteilt werden sollen. Zudem sind alle Freiwilligen-Projekte stark betroffen: Es war ziemlich kompliziert für uns, die Freiwilligen zu unterstützten in so einer unvorhersehbaren Situation. Die Risiken und Schwierigkeiten hatten aber vor allem sie, die in ihre Heimatländer zurückreisen mussten.

Wie geht ihr mit dieser Situation um?
Es hat am Anfang etwas gebraucht bis wir unsere Pläne für die Frühlings-Monate aufgeben konnten und die Sicherheit der Gemeinschaft an erste Stelle gesetzt haben. Es ist nicht einfach, Entscheidungen zu treffen, die die finanzielle Situation sehr negativ beeinflussen können. Jetzt ist es so wichtig wie nie zuvor, zusammenzustehen und mit der Situation umzugehen, als Gemeinschaft, Region, Land und Teil Europas. Wir haben viel mit unseren lokalen und internationalen Partnern kommuniziert, um gemeinsam an Lösungen für die vielen Verzögerungen zu arbeiten.

In einem zweiten Schritt mussten wir unsere Kraft in Projekte kanalisieren, die weiterlaufen müssen, wie etwa die Eröffnung der Unterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Denn es war eine nationale Entscheidung, mit solchen Projekten weiter zu machen.

Habt ihr auch etwas Positives aus dieser Zeit mitgenommen?
Wir mussten kreativ werden und uns an diese Situation anpassen. Dazu haben wir in unserer täglichen Arbeit unsere Bedarfe immer wieder neu hinterfragt. Das ist auch über Online-Kanäle geschehen, für die wir vorher nie genug Zeit gefunden haben. Dazu gehört auch die Web-Entwicklung. Auch haben wir jetzt Zeit für kleinere Reparaturen im Jugendzentrum und in den Büros. Wir hoffen, dass wenn sich die Pandemie-Situation verbessert, es nicht einfach zurück zur „alten Normalität“ geht, sondern wir einen Neustart mit Energie und neuen Ideen in einer besseren Lebenswelt machen. Der Plan ist, aus der jetzigen Situation wirklich zu lernen.


Umfrage: Lisa Brüßler
Fotos:
Thanos Theodoridis, privat

Hier geht es zu Teil 1, hier zu Teil 2 und hier zu Teil 3 der Umfrage. Διαβάστε το άρθρο στα ελληνικά εδώ.

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