Eleftheria und drei Schüler beugen sich über ein Beet, das von außen durch Holzlatten befestigt ist. „So verteilt ihr den Samen gleichmäßig“ sagt und zeigt sie. Behutsam und mit gespanntem Blick verstreut Stavroula, so wie es die Lehrerin vorgemacht hat, die kleinen Kügelchen. Die Samen der Wintersalate landen in den Bahnen, die ihre Lehrer vorher gezogen haben. Herbst 2018, zu Besuch im „Garten der Lyso“ im südgriechischen Kalamata. Hier erlernen junge Menschen mit Behinderung den Beruf des Gärtnergehilfen. Einer von ihnen ist der 20-jährige Jannis Chatzojannis.

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Der Garten sei sein liebster Ort, berichtet er begeistert. „Wir pflanzen biologisch an und verkaufen es auf dem Wochenmarkt. Mit den Erlösen können wir einen Ausflug machen.“ Die Ausbildungsstätte wurde 2016 von Eva Lang und Waltraud Sperlich ins Leben gerufen. Die beiden „Auslandsdeutschen“ sind seit Jahrzehnten in Messenien zu Hause. Eigentlich vertreiben sie im gleichnamigen Verlag Bücher über die griechische Antike. Als das Land jedoch von der Krise getroffen wurde, haben sie das intellektuelle Engagement zeitweilig aufs Eis gelegt, um praktische Hilfe zu leisten. „Was den Menschen fehlt, ist die Perspektive“, meint Eva Lang.

Inspiriert wurde Lang von ihrer eigenen Geschichte, auch ihr erwachsenes Kind lebt inzwischen wieder in Bayern, in einer betreuten Wohngruppe für Erwachsene mit Behinderungen. „Durch meinen ständigen Kontakt zu den sozialen Einrichtungen in Deutschland konnte ich sehen, was alles möglich ist.“ Ihr Fazit: „Gärtnern ist die ideale körperliche Betätigung.“

IMG_20181004_124719Buntes Treiben auf dem großen Gartengelände: Eine Gruppe niedersächsischer Gewerkschafterinnen ist zu Besuch, unter ihnen die Bundestagsabgeordnete Jutta Krellmann (LINKE), die im Peloponnes ihren Urlaub verbringt. Aufgeregt rennen zwei Schüler derweil zu einer Betreuerin, auf der Suche nach speziellen Werkzeugen für einen kleinen Auftrag am Spinat-Beet. „Nicht alle haben einen grünen Daumen, für manche ist es eine richtige Ausbildung, für andere eine schöne Beschäftigung“, erklärt Eleftheria, studierte Agrarwissenschaftlerin. Sie ist eine von fünf Angestellten mit Hochschulabschluss, die durch „Lyso’s Garten“ der grassierenden Arbeitslosigkeit entgangen ist.

Es handelt sich um eines der vielen Sozialprojekte im Lande, die sich über Spendengelder finanzieren. Dennoch um ein seltenes, eben weil es sich der Ausbildung von Behinderten widmet. Laut Statistik (2011) leben immerhin fast 1 Millionen Menschen mit Behinderung in Griechenland – ausgenommen der Geflüchteten mit Behinderung, die sich im Land aufhalten. Das macht 9,3  Prozent der Bevölkerung aus. In der Öffentlichkeit sind sie selten zu sehen, was der Tatsache geschuldet ist, dass die Mehrheit tagein tagaus in geschlossenen Pflegeheimen oder mit der Familie verbringt. Und, wer interessiert sich für Behinderte, ohne betroffen zu sein? Sie sind „von Gott und den Menschen vergessen“, so formulierte es Ioannis Vardakastanis, Direktor des Nationalverbands der Menschen mit Behinderung (NCDP), bei einer Demonstration vorm griechischen Parlament in Athen im November 2015. Dass sich ihre Lage nicht verschlechtert hat, ist für ihn das Verdienst der Behindertenbewegung. Dennoch waren die „ersten Opfer der Krise junge Menschen, ganz zu schweigen von denen mit Behinderungen,“ meint Eva Lang und legt den Finger in die Wunde: Für die Grundausbildung gibt es Sonderschulen. Daneben besteht die Möglichkeit, die normale Schule zu besuchen, wenn dem Schüler eine Betreuungsperson zur Seite gestellt wird. Knackpunkt: Die Beantragung der nötigen Unterstützungsgelder ist nicht aussichtsreich, erklärt Vardakastanis. Ohnehin gebe es kaum angestellte Pädagogen. „Das zeigt, wie der griechische Staat der Sache begegnet“, so der Verbandschef.

Das eigentliche Loch in der Biografie von Behinderten tut sich nach Ende der Schulausbildung auf. Denn dann werden sie behindert. Menschen mit bestimmten Leiden wie geistiger Behinderung können ab dem 22. Lebensjahr Tagesbetreuungszentren besuchen, die aber nicht zu einem Beruf befähigen. Im Land gibt es zwei Hochschulen des Arbeitsamts, die ausbilden. Nur fünf Prozent der sogenannten „Menschen mit großen Leiden“ werden an der Universität zugelassen. Dort fehle es laut NCDP an den entsprechenden barrierefreien Materialien. Viele schieben den Schulabschluss künstlich auf, um tagsüber beschäftigt zu sein, weiß Waltraud Sperlich. Dabei wurde die UN-Behindertenrechtskonvention 2012 von Griechenland ratifiziert. Darin ist das Recht auf Bildung festgehalten: Menschen sollen beim Erwerb von Bildung nicht benachteiligt werden. Ferner wurde im September 2017 ein Gesetz abgeschlossen, das den Zugang zu Gebäuden erleichtern und die Inklusion, beispielsweise durch den Einbezug von Behinderten in öffentlichen Gremien, voranbringen will. Der Alltag von Betroffenen könne sich so erheblich verbessern. Doch Grundrechte werden häufiger beschworen, als gelebt.  „Bis jetzt sind nicht einmal die Aufgabenbereiche in den Ministerien verteilt worden“, meint Vardakastanis.

Wie voll der Geldbeutel ist, bestimmt meist, inwieweit ein selbstbestimmtes Leben möglich ist. Spricht man mit Menschen aus dem sozialen Bereich, unterstellen diese den Behörden nicht selten eine gewisse Willkürlichkeit bei der Gewährung von Geldern. Dieser subjektive Vorwurf beruht auf praktischen Erfahrungen. Für Unverständnis sorgen weitaus auseinanderliegende Rentensätze und die Anspruchszeiträume. So erhalten schwer-geistig Behinderte beispielsweise fast doppelt soviel wie schwer-körperlich Behinderte. Taube werden bis zum Alter von 25 Jahren und wieder ab 65 unterstützt. Aber wie sollen sie sich zwischenzeitlich über Wasser halten und wer stellt sie ein? Einige Gruppen verlieren ihren Rentenanspruch, wenn sie arbeiten und andere nicht. Es fehlt eine nachvollziehbare Erklärung der Kriterien.

IMG_20181004_125302Am Tisch, im Schatten der hochgewachsenen Pinien, neben dem alten Olivenbaum tauschen sich die Besucher mit Sperlich über die Lage aus: Es geht um einen aus Deutschland gespendeten Bus, der nicht genutzt werden kann, obwohl er längst vor Ort eingetroffen ist. Der VW Caravelle im Wert von 12 000 Euro wurde zunächst vom griechischen Zoll mit einer horrenden Einfuhrgebühr von 22 000 Euro überzogen. Die umtriebige Sperlich fand zusammen mit Parlamentariern wie Panajota Kozombolis (Syriza) temporäre Lösungen: Durch eine Schenkung ging das Fahrzeug in den Besitz des griechischen Innenministeriums, dann in den der Gemeinde Kalamata über und rückte so in nähere Reichweite. Denn die 21 Auszubildenden wohnen in der Region verteilt und müssen von zuhause abgeholt werden, um zum Unterricht zu kommen. Theoretisch sollte die Präfektur dafür aufkommen, doch nicht alle Schüler leben im bezuschussten Gebiet. Auch Verbandschef Vardakastanis kennt derlei Probleme: „Am Ende übernehmen die Eltern den Transport.“ Anders bei „Lysos Garten“, der Verein trägt die Kosten von 400 Euro wöchentlich für das Taxi und wollte daher einen günstigeren, eigenen Fahrdienst installieren.

Ein leidiges Dauerthema zwischen den hier anwesenden Unterstützerinnen, Ingrid Spieker echauffiert sich: „Unsere Geduld ist langsam erschöpft“. Die Gewerkschafterin verbringt ihren Ruhestand unter der Mittelmeersonne. Sie hatte das nötige Kleingeld im Kreis der Gewerkschaft eingetrieben und den gebrauchten VW in Deutschland besorgt. Selbst die Tagesschau-Sprecherin Linda Zervakis wirkte indirekt mit: Gelder aus ihrem gespendeten 10 000 Euro-Gewinn in der Quizshow „5 gegen Jauch“ (RTL), die die Moderatorin dem Hamburger Förder- und Freundeskreis Elliniko e.V. übergeben hatte, wurden in das Fahrzeug investiert. Diese Gutwilligkeit der Menschen beschwingt Spieker: „Manchmal denkst du, hierher ziehen reiche Leute, die bloß in ihrem schönem Haus wohnen, aber weit gefehlt.“

Deutschland ist als eines der größten Geberländer von humanitären Hilfszahlungen bekannt: 2017 gaben Deutsche fast 3 Milliarden, 2018 sogar über 3 Milliarden Euro an gemeinnützige Organisationen und Kirchen. Auch war Griechenland wiederum Empfänger dieser Gaben. „Kommen die Spenden auch an?“ – das ist eine häufig gestellte Frage. In Griechenland gleichen sie soziale Ungleichheiten aus, die sich in den Krisenjahren verschärft haben. Spenden sind des Öfteren die einzige verlässliche Einnahmequelle, denn um Gelder beim Europäischen Sozialfonds zu beantragen, braucht es einen Träger.

Auch diesen sucht Waltraud Sperlich seit einem Jahr vergeblich. Im Falle des Busses wurden die guten Absichten der Unterstützerinnen jedenfalls torpediert: Er steht vor dem Rathaus in Kalamata und wird nicht freigegeben. Dabei gäbe es hier „eine tolle Chance, die Gleichstellung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention umzusetzen“, wirft Jutta Krellmann (LINKE) ein, die durch ihre Tätigkeit in der Deutsch-Griechischen Parlamentariergruppe versucht, etwas Bewegung in die abstruse Angelegenheit zu bringen. Momentan blockieren  „rechtliche Probleme“ die Nutzung, so Spieker. „Unserer Anwältin wird aber nicht die Gesetzesnummer mitgeteilt, auf deren Grundlage unser Bus einbehalten wird,“ ergänzt Sperlich bestimmt und ärgerlich. Sie und Eva Lang würden ihre Mittel lieber für Neuanstellungen einsetzen. Immerhin warten schon 50 Schulabgänger mit Behinderungen darauf, sich ebenfalls in „Lysos Garten“ einbringen zu können.

Mit dem politisch erklärten Ende der griechischen Krise droht die Aufmerksamkeit für soziale Projekte am Rande Europas nun zu schwinden. Der Kampf um Teilhabe und Gleichstellung ist gleichwohl ein Kampf um das, was selbstverständlich sein sollte.

Text und Fotos: Elisabeth Heinze

Anmerkung der Redaktion: Der Text ist zuerst im Neuen Deutschland unter dem Titel „Randständig am Rande Europas“ am 04.01.2019 erschienen.

Ein Gedanke zu “Aus den Augen, aus dem Sinn

  1. Ein großes Bravo an Eva Lang und Waltraud Sperlich für Ihre Initiative. Wir leben in Athen und mein 23jähriger Sohn ist seit einem Unfall vor zwei Jahren querschnittsgelähmt (Tetraplegiker). Wir können bestätigen, dass die überbordende, oft undurchdringliche Bürokratie viel Energie aufzehrt und dass der Alltag voller Hindernisse und Barrieren ist. Auch die Deutsche Botschaft Athen ist nicht barrierefrei zugänglich, Rollstuhlfahrer müssen durch die Garage und eine Hintertür eingelassen werden. Aber nicht unschuldig an den verhältnissen in Griechenland sind auch die Verbände, die angeblich die interessen der behinderten hier vertreten, in der Realität aber oft nur Selbstvermarktungsinstrumente sind. Kämpfen der Nationalverband der Menschen mit Behinderung (NCDP) oder diverse Einzelverbände tatsächlich für die Rechte Behinderter? Wie ist es möglich, dass Herr Ioannis Vardakastanis schon seit 1985 ununterbrochen (!!!) Verbandspärsident ist? Haben die keine Vorstandswahlen, warum ? Was tun sie dafür, dass junge Behinderte an der Gesellschaft teilhaben können?
    Eva Lang und Walrraud Sperlich und allen Unterstützern weiterhin viel Erfolg mit ihrem Projekt. Es ist wirklich toll.

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