Wie schnell das europäische Ideal der „Einheit in Vielfalt“ zur lebendigen, begeisternden Erfahrung werden kann, durften zwei Schülergruppen vom Technischen Lyzeum Lechena in Griechenland und von der Berufsbildenden Schule 1 Technik Kaiserslautern während der beiden Austauschwochen ihres Projekts „Misfits: Diversity Uncovered – Geschichte erinnern – Versöhnung gestalten – Einheit in Vielfalt leben“ erfahren.

51820015_610445016060846_4214336522037493760_nDie schwierige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, etwa den schrecklichen NS-Verbrechen an der griechischen Zivilbevölkerung während der deutschen Besatzung zwischen 1941 bis 1944 und den Verfolgungen von politisch Andersdenkenden, psychisch und körperlich Beeinträchtigten und sozialen Randgruppen, war ein zentrales Thema der beiden Begegnungen im Projekt „Misfits: Diversity Uncovered“, das von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft/Europeans for Peace gefördert wurde. Nicht minder wichtig, war dabei aber auch das Feiern der Vielfalt in Europa, das immer wieder thematisiert und in der Freizeit von den Jugendlichen auf vielfältige Weise umgesetzt wurde. Und dennoch war es die Aufarbeitung der Geschichte, die die Jugendlichen letztlich noch näher zusammenbrachte in der gemeinsamen Überzeugung, dass Unterschiede keine Rolle spielen und auch nie wieder spielen dürfen in einer lebendigen europäischen Gemeinschaft.

Warmherziges Willkommen in Lechena und auf Zakynthos
Als die deutschen Jugendlichen am 8. Dezember 2018 in der griechischen Kleinstadt Lechena auf dem Peloponnes ankamen, wurden sie von ihren Partnerschülern und deren Familien warmherzig begrüßt – allseits spürbar mit Erwartungen, wie die Projektwoche verlaufen würde und ob man sich im realen Leben genauso gut verstehen würde wie es die ersten virtuellen Kontakte versprochen hatten. Schon am Sonntag bei einem Ausflug mit einem ersten historischen Workshop auf die Insel Zakynthos zeigte sich, wie schnell und unkompliziert die beiden Gruppen zu einer Gemeinschaft zusammenwuchsen.

Begleitet von einem Reporter der Lokalpresse, der neben Filmaufnahmen auch Interviews mit Teilnehmern machte, wurde die „Misfits“-Gruppe vom Bürgermeister der Stadt Zakynthos empfangen, der die Kooperation zweier beruflicher Schulen und die im griechischen Raum noch recht ungewöhnliche, aber weitgehend begrüßte Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit lobte.

Das Gewicht, das dem Besuch und der Gedenkarbeit beigemessen wurde, zeigte sich u.a. daran, dass eigens die Vorführung eines Dokumentarfilms im lokalen Kino über das „Wunder von Zakynthos“ arrangiert worden war. Von einem „Wunder“ wird deshalb geredet, weil die Inselbevölkerung den Besatzern 1943 erfolgreich die Stirn bot, indem sie sich weigerte, die Namen der jüdischen Mitbürger Preis zu geben, und sie so vor der Deportation und dem sicheren Tod rettete. Dieses Beispiel, wie kollektive Zivilcourage schützt und stärkt, wie wichtig das Eintreten füreinander ist, um lebendige Gemeinschaft zu gestalten, trug sicherlich seinen Teil zum Zusammenwachsen der Jugendlichen zur bunten und fröhlichen Gemeinschaft bei.

Erstmals Beschäftigung mit der Okkupation Griechenlands
Nach der sehr herzlichen Begrüßung im Technischen Lyzeum Lechena am Montag, bei der neben dem Schulleiter, Panagiotis Vatsis, auch der stellvertretende Bürgermeister der Stadt Lechena und der Vertreter des Bezirksschulamtes lobende Worte über die Kooperation der beiden Schulen sowie das Thema des Projekts fanden, befasste sich die Projektgruppe bis einschließlich Mittwoch sehr intensiv mit den NS-Verbrechen an der griechischen Zivilbevölkerung. Brachte diese Auseinandersetzung mit der Geschichte für die griechischen Jugendlichen eine Vertiefung der schon vorhandenen Grundlagen, war sie für die deutschen größtenteils die überhaupt erste Beschäftigung mit der Okkupation Griechenlands und den furchtbaren Verbrechen, die an der Zivilbevölkerung begangen wurden. Für manche Schüler schockierende Erkenntnisse, die jedoch sehr schnell mit der Einsicht verbunden wurden, dass es gerade die Beschäftigung mit der Vergangenheit ist, die den Willen stärkt, freundschaftlich verbunden für die bunte Vielfalt des heutigen Europa einzutreten.

Um einen allgemeinen Überblick bzw. überhaupt Kenntnisse über die Besatzung Griechenlands zu erhalten, erstellten die Jugendlichen eine Zeitleiste mit den wichtigsten Ereignissen der Okkupationszeit. Zentral war danach die Auseinandersetzung mit dem Massaker, das die deutsche Wehrmacht am 13. Dezember 1943 an der Zivilbevölkerung der in den Bergen gelegenen Kleinstadt Kalavryta verübte, wobei über 700 Männer und Jugendliche über 14 Jahren brutal hingerichtet wurden und die Frauen und Kinder in letzter Minute aus der Schule entkommen konnten, in die sie eingesperrt worden waren, ehe die Stadt in Brand gesetzt wurde.

Hierzu schauten die Jugendlichen einige erschütternde Videos mit Zeitzeugeninterviews, befassten sich eingehend mit dem als „Sühnemaßnahme“ bezeichneten „Unternehmen Kalavryta“ und verfassten biographisch-erzählende Texte über das Massaker. So vorbereitet an der 75. Gedenkfeier des Massakers in Kalavryta teilzunehmen und danach sowohl den griechischen Staatspräsidenten, Prokopis Pavlopoulos, als auch den deutschen Botschafter in Griechenland, Jens Plötner, zu einem Gespräch zu treffen, machte sich die Gruppe auf den Weg. Allerdings sorgte ein plötzlicher Wetterumschwung schließlich für den einzigen Wermutstropfen der Projektwoche: Da in den Bergen Schnee gefallen und für den späteren Vormittag eine Glatteiswarnung ausgegeben worden war, entschieden die Projektleiter ca. 30 km vor der Stadt Kalavryta, das Unterfangen zu beenden und umzukehren. Trotz des Verständnisses, dass die Sicherheit allem anderen vorangeht, konnten die Schülerinnen und Schüler ihre Enttäuschung nicht verbergen, die auch durch einen Stadtbummel durch Patras nicht ganz wettgemacht wurde.

Olympische Ideale als Maxime
Beim Ausflug ins antike Olympia mit einem Workshop zu den olympischen Idealen des gegenseitigen Respekts und des friedlichen Zusammenwirkens am Freitag sowie der Schlussbetrachtung zeigte sich, wie sehr alle Projektteilnehmer von den vielen positiven Erfahrungen getragen wurden und wie eng sie sich verbunden wussten. Denn über allem stand als Fazit, dass sie in all ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt zur Einheit zusammengewachsen waren und, mit dem Schulleiter des Lyzeums Lechena gesprochen, sich zuerst als Fremde trafen, die binnen einer Woche Freunde und schließlich Familie wurden.

Die unbeschreiblich großzügige und herzliche Gastfreundschaft der griechischen Freunde spornte die deutschen Jugendlichen sehr an, ihren Partnerschülern beim Gegenbesuch Ende Januar-Anfang Februar möglichst auch ein interessantes, lustiges Freizeitprogramm zu bieten – angesichts der Jahreszeit nicht ganz einfach. Doch wie sich zeigte, kann auch ein heftiger Wintereinbruch Gelegenheiten für außergewöhnliche Erlebnisse bieten: von ausgelassenen Schneeballschlachten über Schlittenfahrten bis hin zu Schlittschuhlaufen.

Doch ehe die griechische Hälfte der neu entstandenen europäischen Familie von 26.Januar bis 2. Februar 2019 zum Gegenbesuch nach Kaiserslautern kam, überraschte ein äußerst ungewöhnliches Angebot, das abzulehnen für alle schlicht undenkbar war: Um das geplatzte Treffen mit dem griechischen Staatspräsidenten Pavlopoulos etwas zu kompensieren, bot eine Mitarbeiterin des Präsidialbüros der Gruppe an, nach Athen zu kommen für eine Führung durch das Präsidentenpalais, verbunden mit der Chance, den Präsidenten doch noch kurz zu treffen.

Spontanreise nach Athen
MedaillePräsidentFür die „Misfits“-Gruppe war sofort klar, dass dieses Angebot unbedingt anzunehmen war – und zwar von der gesamten Gruppe. So flogen die deutschen Gruppenmitglieder kurz entschlossen am 25.Januar 2019 nach Athen, um sich mit den griechischen Freunden zusammen das Präsidentenpalais anzusehen, in der Hoffnung, den Präsidenten wenigstens kurz zu Gesicht zu bekommen. Nicht erwartet hatten die jungen Menschen und ihre Begleiter hingegen, dass sich der Staatspräsident tatsächlich recht viel Zeit nahm, der Gruppe persönlich für ihr Bemühen um die Aufarbeitung der Geschichte zu danken und ihr Engagement für Versöhnung zu loben – Worte, aus denen deutlich wurde, dass sich der Präsident mit den Inhalten des Projekts beschäftigt hatte. Nach einer beeindruckenden, von tiefster Überzeugung getragenen Ansprache, dass Europa unbedingt gemeinsam gestaltet werden müsse, überreichte der Präsident den beiden Gruppen zwei seiner Bücher und einen Silberteller mit seiner eingravierten Unterschrift – eine Gabe, die sonst nur Staatsgäste erhalten.

Am frühen Morgen des 26. Januar ging es dann für die Gesamtgruppe nach Deutschland zur zweiten Projektwoche. Diese startete am Sonntag in Kaiserslautern mit einem gemeinsamen Brunch mit allen Jugendlichen und den Gasteltern. Neben dem gemeinsamen Essen gab es einen Expertenvortrag zum Thema Nationalsozialismus und Verfolgung von Minderheiten-Gruppen in Deutschland. Am Nachmittag führte ein gemeinsamer Spaziergang an einigen Stolpersteinen vorbei zum Synagogenplatz (auf dem bis zur Sprengung im Sommer 1938 eine der schönsten Synagogen Deutschland stand), wo sich einige Interessierte zur Gruppe hinzu fanden, um den Expertenausführungen zu lauschen und ins Gespräch mit den Jugendlichen zu kommen.

Perspektivenwechsel: Das NS-Regime in Deutschland
Der Montag begann nach der offiziellen Begrüßung und einer Schnitzeljagd zur Erkundung der Berufsbildenden Schule 1 Technik mit dem Workshop zur Auffüllung der in Griechenland mit der Okkupationszeit begonnenen Zeitleiste. Dieses Mal waren es vornehmlich die griechischen Jugendlichen, die viel Neues lernten, denn dass es auch in Deutschland schon zu Beginn des NS-Regimes massive Verfolgungen von politischen Gegnern und sozialen Randgruppen gegeben hatte, war den Wenigsten bekannt.

Da auf Wunsch der jüdischen Kultusgemeinde Rhein-Pfalz in Kaiserslautern die jährliche Gedenkveranstaltung anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz (eigentlich am 27. Januar.) auf den Montagnachmittag gelegt worden war, galt der Nachmittag der Teilnahme an der Gedenkfeier. Wie schon Tradition, gestalteten einige der Kaiserslauterer Gruppenmitglieder die Feierlichkeiten mit, indem sie von sowohl über das Massaker in Kalavryta als auch über die gelungene Rettung der jüdischen Bevölkerung auf Zakynthos berichteten – für die allermeisten bei der Gedenkfeier Anwesenden völlig neue Einsichten.

Schicksale einzelner Opfer im Fokus
Nachdem die Gruppe am Dienstag in der KZ-Gedenkstätte Neustadt/Weinstraße zuerst einen Workshop zu vornehmlich politisch Verfolgten während der ersten Monate des NS-Regimes in Deutschland hatte und am Nachmittag mit einem Besuch im Hambacher Schloss, der Wiege der deutschen Demokratie, den Brückenschlag in die Gegenwart und Zukunft Europas unternahm, widmeten sich die Jugendlichen am Mittwoch den Schicksalen einzelner Opfer. Die Erkenntnisse, wie im NS-Regime Andersdenkende, Homosexuelle oder auch körperlich oder psychisch Beeinträchtige verfolgt und größtenteils ermordet wurden, ließen die Jugendlichen in ihre gemeinschaftlich verfassten erzählenden biographischen Texte eindrücklich einfließen.

Weitere Einsichten folgten mit einem Workshop in der KZ-Gedenkstätte Osthofen am Donnerstag, ehe am Freitag bei einer kleinen Feier, zu der auch die Vertreterin der jüdischen Kultusgemeinde, ein Vertreter der Stadt Kaiserslautern und eine Vertreterin der rheinland-pfälzischen Schulbehörde anwesend waren, die beeindruckenden Gesamtergebnisse der beiden Projektwochen vorgestellt wurden.

Wie eng sie während der beiden Wochen beim gemeinsamen Arbeiten, Leben und Freizeit-Gestalten zusammengewachsen waren, zeigte sich auch an den eindrücklichen Schluss-Statements der Jugendlichen: Alle sprachen begeistert von den entstandenen Freundschaften, die wichtig sind, damit die Schrecken der gemeinsamen Vergangenheit sich nicht wiederholen, sondern alle gemeinsam weiterarbeiten an einem versöhnten, friedvollen und bunten Europa. Denn, so ein griechischer Schüler: „Mit Vertrauen und Leidenschaft können wir gemeinsam alles schaffen!“

Text und Fotos: Doris Lax

Eine Videodokumentation, die derzeit erstellt wird, und ein ausführliches Dokumentationsheft mit allen Arbeitsergebnissen der beiden Projektwochen sind eine erste Grundlage für die beschlossene weitere Zusammenarbeit der beiden Schulen und die weitergehende Auseinandersetzung mit der gemeinsamen Geschichte.

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