Unter den internationalen Jugendbegegnungen gab es 2019 etwas Neues: „Footprints in Silence“, ein deutsch-griechisches Projekt rund um Erinnerungs- und Gedenkkultur, zu Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Neben historischer Arbeit befassten sich die 20 Jugendlichen vor allem auf kreativ-künstlerische Weise mit dem Thema. Teilnehmerin Annabell Wähner, die bei beiden Begegnungsteilen in Ravensbrück/Berlin und auf dem Peloponnes dabei war, beschreibt ihre Eindrücke.

Wir haben gedacht und geschwiegen, es wurde gelernt und es wurde viel geredet. Mit verschiedensten Techniken wurden wir zur Mitwirkung angeregt: Die Kreativ-Workshops beinhalteten in Deutschland neben Film- und Tonarbeit auch tänzerische und andere Selbsterfahrungselemente. In Griechenland wurde dann gemalt und es entstand ein gemeinsames Mosaik. Dieses wird nun im Dorf Kryoneri installiert, damit das Projekt auch die Bewohner erreicht. All das passierte vor folgendem inhaltlichen Hintergrund: Was geschah vor gut 70 Jahren im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und während der Besetzung Griechenlands durch die deutsche Wehrmacht? Was können und sollen wir aus der deutschen Geschichte lernen? Was können und wollen wir als junge Menschen heute und zukünftig tun?

Die feinen Unterschiede zwischen „Oh!“ und „Oh…“, „Mh-hm!“ und „Hm…“ haben wir schnell kennengelernt. Die funktionieren doch irgendwie in jeder Sprache ähnlich, Sprachbarriere hin oder her. Unsere Gruppe von 20 griechischen und deutschen Teilnehmenden hat viel gelernt und viel gelacht. Zwei Wochen lang haben wir uns mit der deutsch-griechischen Geschichte beschäftigt – inhaltlich, aber vor allem kreativ-künstlerisch. Kreative Geschichte? Ein paar Wochen sind vergangen, seitdem wir Deutschen von der Peloponnes zurückgekehrt sind und das ist das, was geblieben ist: die Offenheit gegenüber neuen Herangehensweisen an das, was wir dachten, schon ein bisschen zu kennen. Ich sitze in meinem Zimmer, gedanklich längst wieder im Studier-Alltag, und zwischen Skript und Hausarbeit wage ich einen Blick auf die Fotos an meiner Wand… 

Ein paar Deutsche treffen sich in Berlin, keiner kennt den anderen wirklich. Und doch sind wir ab morgen „Team Deutschland“. Einige Momente lang ist das verwirrend, aber dann zeichnen wir Porträts der anderen, eins krakeliger als das andere, und das Eis wird gebrochen. Ein kleines Vorbereitungsseminar also und schon geht es los mit dem Erlebnis „Teil eins – Griechen in Deutschland!“ Wir fahren zusammen nach Ravensbrück, dorthin, wo vor knapp 80 Jahren ein Konzentrationslager stand. Heute sind dort eine Internationale Jugendbegegnungsstätte und eine Jugendherberge: diese werden Ankerpunkte für unsere Projekte der nächsten Tage werden. Zwischen alt-weißen ehemaligen Aufseherinnenhäusern und dem heutigen Museum im Kommandanturgebäude liegt ein neu gestalteter Platz. Und der ist Anlass zu einem Gespräch, was sich mir eingeprägt hat: Irgendwie sei der doch total raffiniert, meint einer meiner neu gewonnenen Freunde. Hä? Na, man werde ja sozusagen zum Ungehorsam aufgefordert, schließlich laufe keiner den Umweg über die Straße, sondern alle überquerten die mittige, mit Schotter gefüllte, Erhöhung. Stimmt, denke ich mir, raffiniert. Und schon bin ich mittendrin, ein kleines Stückchen im farbenfrohen Mosaik aus Persönlichkeiten. 

Zeitgenössisch-aktuell
Manches muss man zweimal machen, um es gut zu finden. Zum Beispiel, wenn man sich seinen Atem quer durch den Kreis „zubläst“. Unsere Gruppe aus unbeholfenen was-tu-ich-hier-Gesichtern wird Stück für Stück zur oh-wow-Runde. Wenn man aus solchen simplen Vorgängen eine eindrucksvolle, berührende Performance machen kann, hat man wahrscheinlich etwas aus den Workshops mitgenommen, oder? 

Aber von vorn: das Kennenlernen wird gleich im Zeitraffer erledigt, so, wie ich es auch von anderen Projekten kenne. Irgendwie sind wir eben alle aus demselben Grund da und verstehen uns schnell. Spätestens beim kräftigen Strampeln auf Draisinen zeigt sich, dass die bunte Truppe gerne zusammen Spaß hat, also braust die Karawane, Musik an der Front und Ausdauer-liebende als Rückantrieb, zum Strandbad. Rhabarberkuchen ist dort das Highlight und auch die Fußballwiese fordert ihre verdiente Aufmerksamkeit. Zurück in der Jugendherberge ein Ausblick: Führungen, Filmen, Schreiben, Vertonen, Tanzen, … die Masse an geplanten Techniken scheint groß. Aber eins muss ich zugeben: die Motivation und Produktivität während intensiver Arbeitsphasen haben mich beeindruckt. In kürzester Zeit haben wir Ideen entwickelt, Kurzfilme gedreht und haben dabei nicht nur viel gelernt, sondern vor allem unseren eigenen Gedanken folgen können. Und aus denen entsteht am Ende die gefühlvolle Stumm-Performance. 

Regel Nr. 1: Du warst nicht in Deutschland, wenn du nicht in Berlin warst
So oder so ähnlich sehen das wohl viele. Und für all die Kamera-Klicks ist es dann auch perfekt, dass sich die Sonne mal wieder herauswagt. Bei einer Foto-Schnitzeljagd fahnden wir nach den besten Motiven und lernen ganz nebenbei die bekanntesten Ecken Berlins kennen. Einen gelungenen Abschluss bildet der Besuch im Bundestag, wo uns – ganz überraschend – ein beeindruckender Blutmond erwartet. Eine gefühlte halbe Weltreise führt uns am letzten Tag zum historisch knallvollen Haus der Wannsee-Konferenz, wo wir uns aus viel Information eine Vortragsreihe puzzeln, die in gewisser Weise eine Fusion aller Erkenntnisse der letzten Tage ist. Ein buntes Sommerfest bildet den gelungenen Abschluss einer unglaublich intensiven Zeit. 

Apropos Zeit…
Knapp sieben Wochen später war es wieder an der Zeit, das Wichtigste zusammenzuraffen: „Teil zwei – Deutsche ab nach Griechenland!“ Selten klischeehaft streiken bei unserer Ankunft die öffentlichen Verkehrsmittel, aber unsere Gastgeber sind uns einen Planungsschritt voraus und holen uns ab. Wohin? Nach Kryoneri, in ein malerisches Bergdorf, was zu allseits großer Verwunderung pünktlich zu unserer Ankunft in Regenschauer gehüllt wird. Trotzdem: die Jugendherberge hat eigentlich eher Ferienhaus-Charakter und umgarnt uns direkt mit ihrem Charme. Wie eine große Familie auf Reisen waren wir bis dahin sowieso. Die Wohnküche wird zum zentralen Treffpunkt für lange Kartenspiel-Abende, die ein oder andere Runde Schach und den nachmittäglichen Kaffee. 

Einmal angekommen, begann das Abenteuer und zwischen herzlicher Gastfreundschaft, gutem Essen und langen Spiele-Abenden wurden nach dem morgendlichen Energizer informative und berührende Geschichten ausgetauscht. Ein ganzer Tag war den Geschehnissen in griechischen Opferdörfern gewidmet, aus denen viele der griechischen Teilnehmenden stammen. Ein weiterer Tag, samt Ausflug, befasste sich mit dem Ort Kalavryta und dessen Geschichte. Wir führten außerdem ein beeindruckendes Zeitzeugeninterview mit einer griechisch-israelischen Überlebenden der Shoa.

Künstlerische Verarbeitung
Kulturell-geschichtliche Workshops und Ausflüge werden wieder künstlerisch verarbeitet und die gewohnte Portion „huch“ wird uns ebenfalls nicht vorenthalten. Einer motiviert den anderen, und plötzlich sitze ich mit meinen eher im Minusbereich angesiedelten Griechisch-Kenntnissen gemeinsam mit zwei griechischen Teilnehmern an einem Tisch und bastle Berge. Sie sprechen kein Englisch. Dank der Sprachmittlung reden wir über die Geschichte ihres Heimatortes und obwohl diese sehr ernst ist, schaffen wir es, in unserem Projekt das Positive darzustellen. Dolmetschen aus, Kreativsein an – mit vereinten Kräften entsteht eine Landschaft aus Papier und Naturmaterialien. Dokumentationen, Archivarbeit, Zeitzeugeninterview, … auch hier haben sich die Programmplaner keinen Kniff nehmen lassen, uns zum Mitmachen zu animieren.

Zwischendurch dürfen wir uns immer wieder bei der herzlichen Gastgeberin stärken, die uns jeden Tag aufs Neue mit schmackhaften Köstlichkeiten versorgt. Ein weiteres Highlight: seit Kurzem gehöre ich zum Kreis der Menschen, die abenteuerlustig und vielleicht auch ein bisschen wahnsinnig im Oktober im Dunkeln im Mittelmeer geschwommen sind. Ohne Mondschein, dafür mit biolumineszentem Plankton – ein funkelndes Mysterium, das ich seit Jahren unbedingt erleben wollte. Als symbolträchtige letzte Aktivität erstellen wir ein fröhlich-farbiges Mosaik. Hämmern, Kleben, Fugen und alles, was dazugehört. Interkulturelles Management made visible – ob immer alles geklappt hat wie geplant? Nein. Und gerade deshalb haben wir beim Spaßhaben so viel gelernt. Jede innere Künstlerin und jeder innere Künstler konnte durch den Vorhang von Schüler- oder Studierendendasein lugen und der ein oder andere lässt sich sicher so schnell nicht wieder dahinter verstecken. 

Der letzte Tag – ich lasse es mir nicht nehmen, zum farbgewaltigen Sonnenaufgang in den dunstbehangenen Bergen aufzustehen und die Ruhe auf der Terrasse zu genießen. Wenig später saust die sonnengefärbte Landschaft am Zugfenster vorbei und wir finden uns im Flughafen Athen wieder. Es ist halb zehn und wir sind müde. Eine letzte Runde Karten spielen und schon durchschneidet die Flugzeugnase den Wolkenteppich und zeigt uns kurz darauf ein kaltes Deutschland. Wenn mich jemand fragt: „Und, wie war es bei dieser Jugendbegegnung?“ werfe ich regelmäßig mit Superlativen um mich und ende mit „Probier’s doch einfach mal aus und fahr‘ mit!“

 

Text: Annabell Wähner
Fotos: Andromachi Poulou, Anja Hack 

Anmerkung der Redaktion: Der Erlebnisbericht erschien erstmals in der DJH-Zeitschrift Mittendrin Ausgabe 04/2019

Partner

Elisson gUG – A North-South connection | DJH – Deutsches Jugendherbergswerk e.V | FILOXENIA – Intercultural-Environmental Organisation, Kryoneri Korinthias

Die Maßnahme ist ein Folgeprojekt eines deutsch-griechischen Fachkräfteaustauschs, der im Dezember 2018 von dem DJH an Erinnerungsorten und Gedenkstätten in Deutschland durchgeführt wurde.

Das Projekt der Jugendbegegnungen in Deutschland und Griechenland wird gefördert im Programm EUROPEANS FOR PEACE:celebrate diversity! youth exchange for all der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, mit Unterstützung durch das BMFSFJ Sonderprogramm Griechenland .

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2 Gedanken zu “Von Fußabdrücken, Stille und kreativer Geschichte

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